Deutschland ist ein schönes Land, aber am liebsten würde der zehnjährige Andrej gleich morgen wieder nach Hause fahren, zurück in die Ukraine. Dafür müsse Russland nur sagen „Frieden, Unentschieden“, so der Viertklässler. Denn natürlich wollte er nie weg aus seiner Heimat in der ostukrainischen Region Dnipro. Aber als Ende Februar immer wieder Luftschutzalarm ausgelöst wurde und im Fernsehen die Geschosseinschläge in anderen Regionen zu sehen waren, fiel die Entscheidung zur Flucht. „Und da ging die Apokalypse los“, erzählt der Zehnjährige und meint das Gedränge von Tausenden auf dem Bahnhof, um einen der Evakuierungszüge zu besteigen. Vier Tage war man bis nach Deutschland unterwegs.
Nun ist es schon ein halbes Jahr her, dass der Junge mit seiner Mutter im sächsischen Chemnitz gelandet ist. Dort geht er auch zur Schule. Die Stadt hat für ukrainische Flüchtlingskinder eine neue, noch nicht restlos fertige Grundschule zur Verfügung gestellt. Mit dem nächsten Schuljahr soll sie ihrer eigentlichen Bestimmung übergeben werden. Vorerst wurden dort nach den Sommerferien acht ukrainische Klassen einquartiert, je vier in den unteren und den oberen Klassenstufen. Die mehr als 200 Schüler werden hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichtet, teils auch auf Deutsch. In den Korridoren hört man sie fast nur Russisch reden.
„Eine ideale Schule“
Andrej wurde in die 4a aufgenommen. Zu seinen Klassenkameraden gehört Platon aus der Region Winniza. Wenn der über seine Träume spricht, dann klingt das so: „Ich würde gern eine Zeitmaschine besteigen und nach Hause fahren, bei Oma Himbeeren essen und mir einen Hund zulegen.“ Von ihrer neuen Schule sind die Kinder begeistert. „Eine ideale Schule“ sei das, meint Andrej. „In so einer Schule bin ich vorher nie gewesen“, sagt Ilja, der ebenfalls in der 4a lernt und aus der Gegend von Schitomir stammt. „Eigentlich“, meint er, „könnten wir ja zurück, bei uns fliegen keine Raketen. Aber Mama hat zu viel Angst. Ich habe auch Angst, aber sie hat noch mehr.“ Die Väter von Andrej, Platon und Ilja sind in der Ukraine geblieben. Als Männer durften sie das Land nicht verlassen.
Den Unterricht in der 4a hält die Deutsch- und Englischlehrerin Irina Alimowa. Sie flüchtete im April aus Cherson, das gerade so oft in den Schlagzeilen ist, und kann die Tränen nur mit Mühe zurückhalten, wenn die Sprache auf ihre Stadt kommt. Da auch die Kinder viel durchgemacht hätten, rede man bevorzugt „über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit“.
Integration geht vor
Sachsen hat mit 54.000 Flüchtlingen im Frühjahr auch 9600 Kinder im schulpflichtigen Alter aufgenommen, heißt es beim Landesamt für Schule und Bildung. Wie man die nun am besten unterrichtet, sei eine „Gretchenfrage“, sagt Pressesprecher Roman Schulz. Sollte der Unterricht möglichst an den ukrainischen Lehrplan angelehnt sein, um den Kindern nach ihrer Rückkehr einen reibungslosen Wiedereinstieg zu erleichtern? Aber wer weiß schon, wie lange es bis dahin noch dauern kann.
In Sachsen gibt man sich offen für individuelle Lösungen, hat aber entschieden, dass generell die Integration vorgeht. Das heißt, dass die Kinder für ein Übergangsjahr vor allem Deutsch als Zweitsprache (DaZ) lernen und je nach Lernerfolg möglichst schnell in den Regelunterricht an deutschen Schulen eingegliedert werden sollen. Aber reicht ein Jahr Vorbereitung tatsächlich aus, um Deutsch so gut zu beherrschen, dass man dem Unterricht folgen kann? Das bereitet der Chemnitzer Grundschulleiterin Evelyn Beschnitt die wenigsten Sorgen. „Wissen Sie, wir haben Afghanen und Syrer bei uns, das ist kein Problem. Kinder lernen unglaublich schnell.“
Kinder lernen vor allem Deutsch
Der Unterricht an der 4a sieht so aus: elf Wochenstunden Deutsch, zwei Ukrainisch, drei Mathematik (davon zwei auf Deutsch), drei Sport und zwei Logorhythmik. In den Pausen oder nach Schulschluss toben die Kinder gern mal im Foyer herum, das mit den sowjetischen Schultypenbauten, wie man sie auch in der Ukraine noch häufig findet, so gar nichts gemein hat.
Die Schule befindet sich auf dem Sonnenberg, einem ehemaligen Arbeiterviertel mit seiner ganz eigenen Aura. Der genaue Standort in der Jakobstraße hat in den letzten 80 Jahren mehrere Metamorphosen erlebt. Durch zwei Luftangriffe im März 1945 wurden die dortigen, in der für das Viertel typischen Karreeform angelegten Wohnhäuser stark in Mitleidenschaft gezogen. An ihrer Stelle entstand in den 1980er Jahren ein sozialistisches Vorzeigeprojekt. Doch die Plattenbauten waren nach der Wende immer weniger gefragt und wurden 2006 wieder abgerissen. Stattdessen gibt es dort nun einen Park, einen Fußball- und einen Spielplatz. Und eben eine Schule, an deren Turnhalle und Außengelände noch gewerkelt wird.
Schule, das sei speziell für die Flüchtlingskinder viel mehr als eine Lerneinrichtung, sagt Roman Schulz. „Es bedeutet auch einen geregelten Alltag und altersgerechte Sozialisation. Ein Stück weit Normalität eben.“
„Wollen endlich Stabilität“
Eine Umfrage bei den Kultus- und Schulministerien der Bundesländer hat derweil ergeben, dass an deutschen Schulen etwa 180.000 Flüchtlingskinder aus der Ukraine untergekommen sind. Gleichzeitig haben dort auch 3000 ukrainische Lehr- und Hilfskräfte Arbeit gefunden.
Die Bandbreite der Erfahrungen, die damit gemacht werden, ist naturgemäß groß. Tatjana Lewizkaja hat das selbst erlebt. Mit ihren Töchtern Aljona (16) und Anastassija (7) lebt sie seit dem Frühjahr in Bonn. Ihre Kinder seien „heute sehr zufrieden“, doch noch vor ein paar Monaten hätte sich das ganz anders angehört. „Sie haben mit mir geschimpft, dass sie lieber im Luftschutzkeller gesessen hätten, dafür aber zu Hause.“
Aus Deutschland will man nicht mehr weg. Lewizkajas Mann, der in Dnipro unter Tage arbeitet, soll nachkommen, sobald es geht, und lernt bereits Deutsch. „Wir sind 2014 schon einmal aus Lugansk geflohen“, sagt die gelernte Betriebswirtschaftlerin. „Es reicht, wir wollen endlich etwas Stabilität in unserem Leben.“
Tino Künzel