Auf der Flucht: Eine persönliche Annäherung an das 20. Jahrhundert

Alexander Osang erzählt in seinem neuen Roman eine Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei verfolgt er auch seine eigene Herkunft bis in eine kleine Stadt in Russland.

Osang

Jelena ist gerade einmal zwei Jahre alt, als ihr Vater wegen seines revolutionären Engagements in der kleinen russischen Stadt Gorbatow, 400 Kilometer von Moskau entfernt, ermordet wird. Um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden, flieht ihre Mutter mit ihr und dem älteren Bruder in die Kaufmannsstadt Nischnij Nowgorod. Und das wird nicht die einzige Flucht bleiben, die Jelena in ihrem Leben durchmachen muss. Es verschlägt sie, nachdem sie den deutschen Textilunternehmer Robert Silber heiratet, auch noch nach St. Petersburg, nach Moskau und später nach Schlesien, bis sie schließlich in Berlin in einem Altersheim landet. 

Alexander Osangs stark autobiografisch gefärbter Familienroman „Die Leben der Elena Silber“ bewegt sich auf verschiedenen Erzählebenen. Er beginnt 1905 in der kleinsten Stadt Russlands und kommt über mehrere Stationen den Bürgerkrieg in Russland, den Zweiten Weltkrieg, die Flucht aus Niederschlesien, die Jahre in der DDR – schließlich 2017 in Berlin-Pankow an. Jelena ist die Mutter aller Familienmythen, die Osang auf spannenden sechshundert Seiten ausbreitet.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte er, dass vieles, was er mit sich rumschleppe, die eigenen Dämonen und Selbstzweifel, mit den Erfahrungen zu tun habe, die Generationen vor ihm gemacht haben. Geschickt verwebt er Jelenas Geschichte mit der ihres Enkels Konstantin, einem 43-jährigen Filmemacher, in dem der Leser unschwer den Autor selbst erkennen kann.

Eine Familiengeschichte zwischen Russland und Deutschland

Konstantin steht vor der unangenehmen Aufgabe, seinen Vater in eben jenes Altersheim zu bringen, in dem schon Jelena ihre letzten Jahre verbrachte. Konstantin ist eine Art ewiges Wunderkind, jedenfalls hält ihn seine Mutter, Jelenas Tochter, dafür. Und wie belastend solche mütterlichen Erwartungen sein können, weiß er nur zu gut.

Sie wirft ihm vor, das Thema seines künstlerischen Schaffens nicht zu finden, also erzählt sie ihm ihre Geschichte. Als guter Sohn beginnt sich Konstantin nun für die gesamte Familiengeschichte zu interessieren, bis er sich schließlich auf die Reise nach Russland macht. Vielleicht ist es der Stoff für einen neuen Film, und vielleicht hilft ihm das auch, sich selbst zu verstehen, nachdem es mit seinen Psychotherapiestunden nicht so richtig weitergeht.

Der mit vielen Preisen ausgezeichnete „Spiegel“-Reporter und Schriftsteller Alexander Osang begibt sich in seinem Roman, der auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, auf eine lange Suche. Eine Suche, die allerdings nicht auf alle Fragen Antworten liefert: Ist Jelenas Ehemann Robert Silber tatsächlich am Ende des Krieges einfach mit dem Familienschmuck geflohen oder wurde er umgebracht? Wie tief war er in das Regime verstrickt? Und was ist mit Jelenas älterem Bruder geschehen?

Eine lange Suche und wenige Antworten

Gegenüber den pragmatischen und starken Frauen, die fürs Überleben sorgen, schneiden die männlichen Exemplare der Familie unterdurchschnittlich ab. Sie treiben mehr dahin oder vielmehr verschwinden sie allmählich. So wie Jelenas Ehemann, der sich angeblich nach Berlin begibt und nie mehr auftaucht. Oder wie Konstantins Vater, der sich immer wieder aus dem Familienleben ausklinkt und als Tierfilmer in die Wildnis aufbricht.

Auch Konstantin selbst ist sowohl beruflich als auch privat gescheitert. Was ihm bleibt, ist der Gang in die Vergangenheit. Der soll ihm die nötige Klarheit bringen. Doch die Vergangenheit in diesem Roman ist schwer und belastend, dagegen kommt die Gegenwart doch viel unbeschwerter und lockerer daher. Will uns Osang damit sagen, dass der Blick in die Vergangenheit am Ende doch ohne Bedeutung ist, oder besser: ohne Bedeutung sein sollte? Lebe dein eigenes Leben, im Hier und Jetzt.

Irina Kilimnik

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