Zwischen Leben und Tod: Szenen eines Ehrenamts

Die Wohltätigkeitsstiftung „Wera“ leistet Pionierarbeit auf dem Gebiet der palliativen Medizin und Pflege. Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 unterstützt sie Hospiz-Projekte, auch durch ehrenamtliches Engagement. Eine dieser Helferinnen ist die Deutsche Lena Steinmetz (41), Chefredakteurin des AHK-Magazins „Impuls“. Warum sie ihre Freizeit mit unheilbar Kranken verbringt, hat sie der MDZ erzählt.

Auf dem Gelände des Moskauer Hospizes Rostokino: Eine Kordinatorin der Stiftung „Wera“ plaudert mit einem Patienten, dessen Krankenbett bei schönem Herbstwetter ins Freie geschoben wurde (Foto: Nadeschda Titowa)

Das „Zentrum für palliative Hilfe“ ist ein Krankenhausbau aus Sowjetzeiten im Moskauer Stadtteil Marina Roscha, fünf Kilometer nördlich vom Roten Platz. Von den sieben Stockwerken waren vier mit Stationen für 200 Patien­ten belegt, bis Ende 2021 zwei Stationen in ein rundum modernisiertes Gebäude nebenan umzogen. Im Altbau herrscht bis heute Krankenhaus-Flair. Das ist kein typisches Hospiz, wie man es anderswo in Moskau hat, dafür aber die größte Einrichtung ihrer Art für Menschen, die unheilbar krank sind.

Drinnen wird nichtsdestotrotz versucht, eine halbwegs wohnliche Atmosphäre zu schaffen – mit Tee-Ecken oder auch mit Blumen. Und mit Freiwilligen der Stiftung „Wera“, die Abwechslung in den Alltag der Patienten bringen und sich bei vielen kleinen Dingen nützlich machen. Ich bin eine davon. Seit fast fünf Jahren schon.


Dieser Beitrag erscheint im Rahmen unserer Serie „Moskaus gute Seelen“. Lesen Sie dazu auch: Menschlichkeit für einen Lebenslänglichen


Wir wünschen uns wohl alle, dass wir zu Hause sein können, wenn es uns schlecht geht. Deshalb versuchen wir ehrenamtlichen Helfer, auch den Patienten ein wenig Zu-Hause-Gefühl zu vermitteln. Leider sind wegen der Corona-Pandemie größere Veranstaltungen bis heute nicht möglich. Aber irgendwann werden wir wieder Konzerte in den Räumen des Zentrums haben. Oder unseren beliebten Lotto-Abend. Fragen Sie mich nicht, wie genau dieses Spiel geht. Ich war mehr damit beschäftigt, die Tische mit Tee und Süßigkeiten zu decken oder kleine Geschenke zu verteilen.

„Menschen wie du und ich“

Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Manche Leute sind unglaublich dankbar für jedes bisschen Aufmerksamkeit und sagen das auch. Andere sind nie zufrieden. Man lernt schnell, dass die Patienten trotz ihrer besonderen Situation vor allem Menschen wie du und ich sind, jeder mit seinem Charakter und seiner Lebensgeschichte. Deshalb kommt mal mehr, mal weniger zurück.

Die deutsche Journalistin Lena Steinmetz arbeitet bei der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer. (Foto: Privat)

Aber das kann auch nicht der Maßstab unserer Arbeit sein. Natürlich tut es gut, wenn du angelächelt oder vielleicht sogar erkannt wird. Nur sind die Leute nicht dazu da, dass du dich gut fühlst. Deine Sorgen und Probleme interessieren niemanden. Du bist hier, um anderen zu helfen. Im Vordergrund stehen immer die Bedürfnisse des Patienten. Wenn er jetzt ein Buch vorgelesen haben möchte, fünf Minuten später aber nicht mehr, dann liest man auch nicht weiter. Undenkbar, an der Stelle zu sagen: „Nein, Sie hören zu.“

Ich versuche, einmal pro Woche ins Zentrum zu fahren. Man meldet sich vorher bei den sogenannten Koordinatoren an, das sind festangestellte Mitarbeiter der Stiftung „Wera“ vor Ort. Die wissen, was zu tun ist und was die Patienten gerade brauchen. Wenn es jetzt wieder wärmer wird, dann können die auch an die Luft. Wer nicht laufen kann, wird im Rollstuhl oder im Bett raus ins Freie geschoben. Man kocht Kaffee und Tee. Es darf auch mal eine geraucht werden.

„Zahlen Sie mit einem Lächeln“

Ältere sagen bei solchen Gelegen­heiten oft zunächst: „Ohne mich.“ Die wollen keine Umstände machen. Und sie sind es überhaupt nicht gewohnt, verwöhnt zu werden, geschweige denn etwas geschenkt zu bekommen. Wenn wir Lebensmittel austeilen, gekauft von Spendengeldern, dann lehnen viele erst einmal ab. „Ich brauche nichts“ oder „Ich habe kein Geld“, heißt es dann. Darauf habe ich mir eine Antwort überlegt. Ich sage: „Sie können mit einem Lächeln bezahlen.“ Und tatsächlich lächeln dann die meisten.

Unsere Rolle als Freiwillige können die Patienten häufig nicht einordnen. Selbst für das Personal war das am Anfang ungewohnt. Ehrenamt ist ja auch noch ein relativ neues Thema für Russland. Warum macht man das?

Bei mir haben persönliche Erfahrungen eine große Rolle gespielt. Ich habe 2015 eine Freundin verloren, die ganz plötzlich gestorben ist. Ein Jahr später musste ich mich von meinem jüngeren Bruder verabschieden. Er war 32, als die Ärzte gegen den Krebs nichts mehr ausrichten konnten und er aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Nach kurzer Zeit wurde ihm gesagt, er hätte noch eine Woche zu leben, in Deutschland ist man da ja sehr direkt. Ich habe damals schon in Moskau gelebt, war aber in seinen letzten Tagen bei ihm. Es wäre Zeit gewesen, das Gespräch zu suchen, aber diese Chance habe ich nicht wirklich genutzt und das beschäftigt mich bis heute.

„Auf ein Wunder gehofft“

Die Stiftung „Wera“ hat zum Umgang mit diesen Momenten sogar einige Publikationen aufgelegt. Bei uns im Zentrum erlebt man hautnah mit, wie schwer es Fami­lien oft fällt, die richtigen Worte zu finden, bevor es zu spät ist. Wie viel Überwindung es kostet, zu sagen, dass man sich lieb hat, dass man sich verzeiht, wenn über Jahre zwischen Eltern und Kindern viel schiefgelaufen ist. Gelingt das, ist es ein großes Glück für beide Seiten.

Ich habe das damals bei meinem Bruder nicht verstanden und auch nicht verstehen wollen. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass es zu Ende geht. Bis zuletzt habe ich gehofft, dass ein Wunder passiert. Dass er aufsteht und alles wieder so ist wie vorher. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, wie ich beim nächsten Mal reagiere.

Konzert im Ersten Moskauer Hospiz (Foto: Katja Murawja)

Auf jeden Fall finde ich nichts Schreckliches dabei, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Das Sterben gehört zum Leben, so wie alles andere auch. Aber ich sehe nicht zuletzt bei uns im Zen­trum, dass man das Thema von sich wegschiebt, dass in Russland generell vieles nicht ausgesprochen wird. Die Patienten werden oft im Unklaren gelassen, wie ihr Zustand ist und wo sie sich überhaupt befinden. Es wird über alles Mögliche geredet, nur nicht darüber. Prognosen werden nur den Verwandten mitgeteilt. Und wenn die entscheiden, dass sie das ihrem Angehörigen lieber vorenthalten, dann erfährt er davon auch nichts.

„Mitnehmen, was geboten wird“

Ich vermute aber, dass die Leute durchaus im Bewusstsein leben, dass ihre Zeit begrenzt ist. Die versuchen auch, alles mitzunehmen, was ihnen geboten wird. Wenn sie die Gelegenheit haben, einen Film zu schauen, für den extra eine Leinwand aufgebaut wurde, dann machen sie das in der Regel auch und sagen sich nicht: vielleicht ein andermal.

Das heißt anderer­seits aber nicht unbedingt, dass sie nicht auch den nächsten Filmabend erleben. „Unheilbar krank“ ist nicht gleichbedeutend mit „im Sterben liegend“. Wer sich palliative Einrichtungen als traurige Orte vorstellt, wo alle nur auf den Tod warten, liegt falsch. Wir haben bei uns auch Patienten, die nach Hause entlassen werden, weil es ihnen dafür wieder gut genug geht. Manche leben mit ihrer Krankheit 20 Jahre. Manche nur ein paar Wochen.

Es kommt vor, dass sich zwischen Freiwilligen und Patienten auch ein persönliches Verhältnis entwickelt. Ich wollte das anfangs gar nicht, weil ich Angst hatte, in den Augen der Leute etwas zu sehen, was mich an meinen Bruder erinnert. Um mich zu schützen, habe ich gesagt, dass ich lieber Regale einräume, Sachen sortiere und andere Dinge mache, die keinen unmittelbaren Umgang mit den Kranken voraussetzen. Aber die Koordinatorin hat erkannt, dass diese Sorge unbegründet ist. Seitdem kümmere ich mich auch direkt um die Patienten. So habe ich unter anderem zwei ältere Damen näher kennengelernt.

„Ein Modell der Zivilgesellschaft“

Mit der einen habe ich mich super verstanden. Das war eine nette und fromme Frau, die mir aus ihrem Leben erzählt und mich auch zu meiner Familie ausgefragt hat. Sie ist dann in ein Pflegeheim verlegt worden, die Familie wollte das so. Mir wurde jeglicher Kontakt verboten, keine Ahnung warum. Ich weiß deshalb leider gar nichts von ihr.

Die andere Frau hat gern gesungen, zum Beispiel beim Karaoke, und mich dann immer gebeten, sie zu unterstützen, denn „zusammen singt es sich besser“. Sie ist unerwartet schnell gestorben. Und obwohl man natürlich weiß, dass das passieren kann und man darauf gefasst sein sollte, nimmt einen so etwas schon mit, wenn die Person auf einmal nicht mehr da ist.

Solche Begegnungen bedeuten mir viel. Und überhaupt weiß ich es sehr zu schätzen, was für tolle Menschen ich dank diesem Ehrenamt schon getroffen habe.

Die Stiftung „Wera“ ist für mich ein Modell der Zivilgesellschaft, wie sie sein soll. In der man einander hilft und dafür nicht zwingend eine Gegenleistung erwartet. Über die konkrete Arbeit in den Hospizen hinaus hat „Wera“ auch auf gesetzlicher Ebene schon Erstaunliches erreicht. Jetzt ist die Gründerin Njuta Federmesser dabei, das, was in Moskau bereits gut funktio­niert, in die Regionen weiterzutragen. Erste Erfolge zeigen sich bereits in St. Petersburg, Samara, Ufa, Kasan und in der Region Jaroslawl.

Aufgeschrieben von Tino Künzel

Noch bis 28. April zeigt eine Fotoausstellung auf dem Twerskoj Bulwar, wie es hinter Hospiz-Mauern aussieht. Die Bilder für „Leben bis ans Ende des Lebens“ wurden von ehrenamtlichen Helfern der Stiftung „Wera“ geschossen, während sie unheilbar Kranke auf ihrem letzten Weg begleiteten. Adresse: Twerskoj Bulwar 2

Palliativstation im Dorf Koslowo in der Region Twer (Foto: Alexej Konin)
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