Viel östlicher geht es gar nicht. Wladiwostok liegt nicht nur so ziemlich am äußersten Rand von Russland, sondern auch von Asien. Doch der Globus ist ein schlechter Ratgeber, um diese Stadt zu verstehen. Auf der mentalen Landkarte würde man sie ganz woanders verorten, denn sie hat eine europäische Seele und wurde im europäischen Geiste erbaut.
Das scheint Russlands östlichste Großstadt immer interessanter für Ausländer aus der Nachbarschaft zu machen. Nach amtlichen Angaben wurde die Region im Jahr 2018 von 651.000 ausländischen Touristen besucht – Rekord und ein Plus von 25 Prozent gegenüber 2017. Im ersten Quartal des laufenden Jahres setzte sich der Trend fort.
Die Zahlen beziehen sich zwar formal auf die Region, doch das Ziel der Besucher ist deren Hauptstadt Wladiwostok. Chinesen, Südkoreaner und Japaner sind laut Statistik besonders stark vertreten, sie profitieren dabei auch von den vor zwei Jahren eingeführten E-Visa für Russlands Fernen Osten. Vier südkoreanische und eine chinesische Fluggesellschaft nahmen im Vorjahr den Verkehr nach Wladiwostok auf.
Großer Beliebtheit erfreuten sich Kurztrips am Wochenende, wird Konstantin Schestakow, Direktor der regionalen Tourismusbehörde, im „Nationalen Rating des Incoming Tourism 2019“ zitiert. „Pärchen aus asiatischen Ländern besuchen Wladiwostok als eine europäische Stadt, in der sie mit europäischer Kultur in Berührung kommen“, so Schestakow. In dem Rating landete die Region Primorje auf dem dritten Platz hinter Moskau und St. Petersburg.
Wo heute Wladiwostok ist, war noch vor 150 Jahren fast nur Taiga. Das Stadtbild geht zu großen Teilen auf Bebauung vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Auch Deutsche wirkten dabei an vorderster Front mit. Nach Plänen des Architekten Georg Junghändel wurde 1907 das älteste Gotteshaus der Stadt, die Pauluskirche, für die große lutherische Gemeinde von Wladiwostok errichtet, der unter anderem der damalige Gouverneur Pawel Unterberger angehörte. Auch beim Projekt eines Kaufhauses für das deutsche Handelsunternehmen Kunst und Albers stand Junghändel Pate. Das Gebäude öffnete 1884 seine Tore, 1907 wurde es im Jugendstil umgebaut und zählt heute zum Schönsten, was Wladiwostok zu bieten hat.
Der Nachwelt erhalten geblieben ist auch ein weiteres Meisterwerk von Junghändel: das Wohnhaus des deutschen Kaufmanns Julius Bryner. Seine ersten sieben Lebensjahre verbrachte dort dessen Enkel, der als Yul Brynner einmal ein Filmstar werden sollte.
Zu den Highlights für Touristen in Wladiwostok werden auch die Festung, die Glücksspielzone (eine von nur vier in Russland), eine Filiale des St. Petersburger Mariinskij-Theaters und das Essen gezählt. 2017 erstellte die Buchungsplattform Booking.com ein Gastro-Ranking russischer Städte, basierend auf Nutzermeinungen. Wladiwostok belegte den ersten Platz (vor Susdal und Kostroma).
Vom russischen Staat bekommt die Stadt in den letzten Jahren jede Menge Aufmerksamkeit. Schon, um dem Eindruck entgegenzuwirken, für Moskau ende Russland am Ural und der weitaus größte Teil des Landes – Sibirien und der Ferne Osten – werde vernachlässigt, wird Wladiwostok massiv gefördert. Das Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 2012 war dabei ein Meilenstein: Im Vorfeld entstanden unter anderem zwei State-of-the-Art-Brücken, die vielen Einwohnern überhaupt erst eine vernünftige Anbindung ans Stadtzentrum ermöglichten und auch dafür sorgten, dass die Insel Russkij erschlossen wurde. Dort befinden sich heute der Campus der Fernöstlichen Staatlichen Universität, ein Ozeanarium und ein Museums- und Theaterzentrum.
In den nächsten Jahren soll nun zentrumsnah ein neues Gebäudeensemble für Kultur- und Museumszwecke entstehen, mit Ausstellungsflächen für Eremitage, Tretjakow-Galerie und andere. Das ambitionierte Projekt war sogar international ausgeschrieben worden, den Zuschlag hatte Asymptote Architecture aus den USA erhalten. Doch wie soeben bekannt wurde, darf es nun offenbar vom zweitplatzierten Architekturbüro SPEECH aus Moskau realisiert. Vizepremier Olga Golodez sieht Wladiwostok auf einem guten Wege. Die Stadt werde zu einem der „wichtigsten Kulturzentren des Landes“, sagte sie beim Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok Anfang September.
Tino Künzel