Wenn die Welt zu komplex wird

Verschwörungstheorien haben weltweit Hochkonjunktur. Doch während sie in Deutschland vor allem durch Privatpersonen im Internet verbreitet werden, sind in Russland Politik und Medien treibende Kräfte. Welchem Zweck dienen die Geschichten?

Beliebte Verschwörungstheorie:  Madeleine Albright soll die Aufteilung Sibiriens gefordert haben.
Ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright: Sie soll die Aufteilung Sibiriens gefordert haben. (Foto: Michail Fomitschew/ RIA Nowosti)

Ob ich denn auch glaube, dass das Coronavirus von den Amerikanern erfunden worden sei, um der chinesischen Wirtschaft zu schaden, fragte mich eine Kollegin im Deutsch-Russischen Haus zu Anfang der Pandemie. Der Automechaniker um die Ecke war sich sicher: „Das Virus ist doch ausgedacht!“ Ein Moskauer Freund schrieb unlängst, er habe da eine Theorie, was hier gerade vor sich gehe. Die werde er mir einmal unter vier Augen darlegen, denn das könne etwas länger dauern.

Angesichts all dessen könnte man glatt geneigt sein, Russland für einen Hort des Verschwörungsglaubens zu halten. Richtet man jedoch den Blick nach Deutschland, findet man derzeit ein ganz ähnliches Bild vor. Bill Gates will uns mittels Impfungen Mikrochips spritzen lassen. Die Demokratie soll abgeschafft werden und das Virus ist nur ein Vorwand dafür. Das deutschsprachige Internet quillt über vor solcher Geschichten. Zweifelhafte Berühmtheit erlangten Figuren wie Social-Media-Koch Attila Hildmann oder der ehemalige Moderator Ken Jebsen.

Geheimhaltung in Sowjetzeiten

Verschwörungstheorien sind in allen modernen Gesellschaften verbreitet und Teil des öffent­lichen Diskurses. Doch die Situation unterscheidet sich von Land zu Land. Wie steht es um Russland und Verschwörungstheorien? Welche Bedeutung hat dabei die sowjetische Vergangenheit? Welchen Einfluss hatten die Jahre der Peres­trojka? Und welche Rolle spielen Medien und Politik im heutigen Russland?

Im Hinblick auf die Verbreitung sei die Situation in Russland vergleichbar mit den USA, mehr als die Hälfte der Menschen glaube an mindestens eine Verschwörungstheorie, sagt Sergey Talanov, Assistenzprofessor für Politologie und Soziologie an der Pädago­gischen Universität in Jaroslawl. Die Sowjetzeit habe dabei durchaus ihre Spuren hinterlassen. „Damals wurde vieles durch die politische Führung geheim gehalten. Denken Sie an die Reaktor­katastrophe von Tschernobyl. Die Menschen haben sich später betrogen gefühlt, sie verloren ihr Vertrauen in die Medien“, gibt er zu bedenken. Das habe den Glauben an Verschwörungstheorien begünstigt.

Die Verantwortung der Medien

Doch auch bei der jüngeren Generation beobachtet Talanov eine zunehmende Neigung zu verschwörerischem Gedankengut. Den Grund sieht er unter anderem in der sinkenden Qualität der Bildung in den vergangenen Jahren. „Viele junge Menschen sind immer weniger in der Lage, Informationen richtig zu beurteilen.“ Hinzu komme, dass in den Medien heute massenhaft Verschwörungstheorien zu finden seien. Gerade in der Situation mit dem Coronavirus sei das wieder offensichtlich geworden. Wer in der Situation seinen Job verloren habe, fühle sich auf der Suche nach einem Schuldigen leicht von einer Verschwörungstheorie bestätigt, so Talanov. „Diese Theorien liefern einfache Erklärungen für komplexe Prozesse, das macht sie so beliebt.“

Auch Ilja Jablokow sieht hier die russischen Medien in der Verantwortung. Der Medienexperte an der Universität Leeds beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit Verschwörungstheorien in Russland. Die journalistische Gemeinschaft habe es im postsozialistischen Russland versäumt, qualitative und ethische Standards zu setzen und eine einheitliche Berufsgemeinschaft zu schaffen, sagte er in einem Vortrag. Die Loyalität gegenüber dem Eigentümer oder dem Staat sei oft wichtiger als die Einhaltung von Qualitätsstandards. Verschwörungstheo­rien gelangten somit ungefiltert in die Medien.

Ein Mittel des Machterhalts

Auch Jablokow schätzt die Verbreitung von Verschwörungstheorien in Russland und den USA etwa gleich ein. Der Unterschied sei jedoch, dass sie in den USA in der Regel aus der Bevölkerung kämen, in Russland dagegen seien sie ein politisches Instrument geworden, das gezielt eingesetzt werde.

Den Beginn dieser Entwicklung sieht er in Folge der Orangenen Revolution in der Ukraine 2004. Aus Angst, dass die Revolutionsstimmung auf Russland übergreifen könnte, seien durch die herrschenden Kreise in Russland immer wieder Geschichten von westlichen Verschwörungen in Umlauf gebracht worden, die die Zerschlagung Russlands zum Ziel hätten. Dies habe sich als probates Mittel erwiesen, den Zusammenhalt der Bevölkerung zu stärken und allen, die eine andere Position als der Kreml vertreten, die Legitimation zu entziehen. Verschwörungstheorien seien zu einem Mittel des Machterhalts geworden.

Madeleine Albright will Sibirien aufteilen

Seit der Ukraine-Krise 2014 habe sich zudem die politische Sprache radikalisiert. Begriffe wie „Verräter der Nation“ oder „Fünfte Kolonne“ würden gezielt eingesetzt, um Menschen zu diffamieren, die die Ukraine-Politik des Kremls kritisierten, so Jablokow in der Zeitschrift „Osteuropa“.

In einem Gespräch mit dem Magazin „Meduza“ nannte er ein populäres Beispiel für eine antiamerikanische Verschwörungstheorie. So soll die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright einmal gesagt haben, es sei unfair, dass der Reichtum an Bodenschätzen allein Russland gehöre. Sibirien solle unter internationale Kontrolle gestellt werden.

„Albright hat das nie gesagt“, so Jablokow. Doch das seit 2005 kursierende Zitat wurde noch 2015 von dem Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation, Nikolaj Patruschew, in einem Interview mit der Zeitung „Kommersant“ aufgegriffen. Er unterstrich damit seine Ansicht, die USA würden es begrüßen, wenn Russland als Staat von der Landkarte verschwände.

Verschwörungskunde an der Uni

Nicht nur in der Presse kursieren solche Verschwörungstheorien in Russland. Die „Meduza“-Journalistin Lilija Japparowa berichtete von einer Prüfung an der Russischen Technischen Universität in Moskau im vergangenen Winter. In der zugehörigen Vorlesung war es eigentlich um nationale Informationssicherheit gegangen. Doch sowohl in den Testfragen als auch in Folien zu der Vorlesung fanden sich auch abstruse Verschwörungstheorien.

So soll etwa das US-amerikanische Forschungsprogramm HAARP dazu gedient haben, Gedanken zu manipulieren. Das Programm untersuchte eigentlich die Ausbreitung von Radiowellen in der oberen Atmosphäre. Zudem sei davon zu lesen, dass unter anderem gentechnisch manipulierte Drogen, alkoholische Getränke und Energy-Drinks als ethnische Waffen eingesetzt werden.

Beliebte Verschwörungsthorie: der „Dulles-Plan“

Auch die seit den 90er Jahren populäre Verschwörungstheorie vom „Dulles-Plan“ war Teil des Tests. Der Name geht auf den früheren CIA-Chef Allen Dulles zurück. Demnach soll es einen US-Plan zur Zersetzung der Sowjetunion mit propagandistischen Mitteln gegeben haben. Die moralischen Werte des Volks sollten untergraben und der Sozialismus diskreditiert werden. Der Text stammte jedoch nicht von Allen Dulles, sondern aus einem sowjetischen Roman. So etwas an einer der größten technischen Hochschulen des Landes zu hören, sei gleichermaßen amüsant und traurig, so Japparowa.

Der Dozent Witalij Grigorjew, der diese Dinge lehrt, war einst Lehrer an einer KGB-Schule. Für Ilja Jablokow ist das nicht verwunderlich. Gerade für die ehemaligen KGB-Leute sei der „Dulles-Plan“ eine willkommene Erklärung für den Zusammenbruch der Sowjetunion.

Waren dies vor 30 Jahren noch eher einzelne Offizielle, die solche Thesen verbreiteten, so haben Verschwörungstheorien heute in Russland System, so Jablokow. Nach 15 Jahren einer Politik, die aktiv Verschwörungstheorien befeu­ere, sei die Öffentlichkeit in Russland mittlerweile tatsächlich etwas anfälliger für den Glauben an diese, wie er gegenüber der MDZ sagt.

Jiří Hönes

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