Beim „Königsbäcker“ am Bahnhof von Selenogradsk hängen großformatige Fotos an der Wand. Sie zeigen Alltagsszenen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, als das Seebad noch Cranz hieß. Strandkörbe sind auf ihnen zu sehen, die Häuser tragen Aufschriften wie „Café Gutzeit“, „Hotel Bellevue“ und „Strand-Hotel“. Menschen sitzen im Sand oder stehen im Meer. Sie ahnen nichts von den Katastrophen, die schon bald über Europa hereinbrechen und bis in die Grundfesten erschüttern werden, was so unerschütterlich schien. Nach sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte dieses schönen Fleckens an der Ostsee fliehen dessen Bewohner am Ende des Zweiten Weltkriegs in Richtung Westen. Und wer noch da ist, als die Rote Armee in Ostpreußen einrückt, der wird gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Stattdessen werden in Cranz und anderswo nunmehr Menschen aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion angesiedelt.
Deutsches Erbe und Lenin
Es folgt die Umbenennung in Selenogradsk, die „grüne Stadt“. Das ist im Übrigen ein Attribut, das sich bei einem Besuch als absolut zutreffend herausstellt. Wer jedoch Cranz in Selenogradsk sucht, der wird enttäuscht. Die Aura des ruhigen und eher vornehmen Kurortes, der in der Spitze 29 Hotels beherbergte, obwohl er bis zum Schluss nicht einmal das Stadtrecht besaß, scheint unwiederbringlich verflogen.
Zu Sowjetzeiten konnte von Tourismus keine Rede, die russische Exklave Kaliningrad (das einstige Königsberg) war damals Sicherheitsgebiet und für Besucher gesperrt. Erst als anschließend auch noch die 1990er Jahre mit ihrem Drunter und Drüber überstanden waren, begann sich Selenogradsk allmählich neu zu erfinden und peu à peu herauszuputzen. Es gilt heute als die volksnähere Ferienadresse im Vergleich zum 20 Kilometer weiter westlich gelegenen Swetlogorsk, dem ehemaligen Rauschen, das im Ruf steht, feiner zu sein. Bis zum Krieg war es umgekehrt.
Spuren der deutschen Geschichte von Selenogradsk (hier eine Auswahl alter Postkarten) gibt es dabei durchaus und nicht zu knapp. Das fängt schon beim Bahnhof an, der 1885 gebaut wurde, auch wenn man ihm das nicht so recht ansieht. Gleich auf der anderen Seite der Leninstraße: das ehemalige Bahnhofshotel. Im Nachbargebäude aus rotem Backstein, der Villa Krell, ist heute das Heimatmuseum untergebracht.
Ein paar Schritte weiter beginnt die Flaniermeile der Stadt, die einstige Königsberger Straße, heute Kurort-Prospekt. Anders als früher ist er verkehrsberuhigt, doch die Fußgänger sorgen für reichlich Verkehr. Ungefähr auf halber Länge des Prospekts, gleich neben dem ehemals berühmten, inzwischen aber baufälligen Kaufhaus Sternfeld: das Kurhaus von 1843, mit einem Lenin-Denkmal davor. Vergleichsweise reich an Altbauten ist auch die frühere Hohenzollernstraße, heute Moskauer Straße. Sie wird von Villen mit Namen wie Waldesrand, Victoria oder Waldfrieden gesäumt.
Nicht gerade auf leisen Pfoten
Doch die Illusion einer historischen Konstante stellt sich nie ein. Das bauliche Erbe, darunter auch Bäderarchitektur, ist fragmentarisch über die gesamte Innenstadt verteilt. Um es zu besichtigen, muss es gezielt abgelaufen werden, wofür man am besten einen Reiseführer zur Hand hat (zu empfehlen wäre dieser hier). Zu einer Art Freilichtmuseum taugt Selenogradsk damit durchaus. Ein zusammenhängendes Bild, das den Besucher gefühlt in alte Zeiten versetzen würde, ergibt sich allerdings nicht.
Und das Authentische an der Stadt gerät in jüngster Zeit noch weiter in den Hintergrund. Denn Selenogradsk erlebt ein Rebranding als, Achtung, „Katzenhauptstadt“. Auf Schritt und Tritt sind Katzen auf Hauswände gemalt, in Installationen gegossen und als Souvenirs zu haben. Der Kurort-Prospekt ist dermaßen vermiezt, dass dort sogar eine symbolische, aber funktionstüchtige Katzenampel installiert wurde. Dabei entbehrt dieser Katzenfimmel irgendeiner geschichtlichen Grundlage. Seine Genese ist schnell erzählt. Ein Ehepaar aus Moskau übernahm die Sanierung des Wasserturms aus dem Jahre 1905 und durfte im Gegenzug dort ein Katzen-Museum („Murarium“) mit über 4500 Exponaten unterbringen, das 2012 eröffnet wurde. Die Moskauer sollen es auch gewesen sein, die sich dafür eingesetzt haben, später gleich ganz Selenogradsk das Fell über die Ohren zu ziehen.
Katzenfotos und Bernstein
Nach allem, was man weiß und beobachten kann, ist diese Schnapsidee aus Sicht des Fremdenverkehrs überaus erfolgreich. Die Katzen, darunter auch eine Menge lebendiger Vertreter, sind zu einem Besuchermagneten geworden. Vor allem Familien mit kleinen Kindern finden diese Touristenattraktion ganz süß und bringen Telefone voller Katzenfotos mit nach Hause. Zu welchen Auswüchsen das geführt hat, ist hin und wieder in der Zeitung zu lesen. Viele bringen eigene Vierbeiner mit, um sie in Selenogradsk auszusetzen, weil das doch im Ruf steht, ein Katzenparadies zu sein. Das macht sogar Swetlana Logunowa fassungslos, die nun wirklich ein Herz für Katzen hat. Sie ist eigens bei der Stadt angestellt, um sich um die Streuner zu kümmern und sie publikumswirksam auf der Straße zu füttern.
Einfach nur durch Selenogradsk zu bummeln, ohne von solch aufdringlichem Stadtmarketing oder von den Segnungen des Kommerzes – Bernstein verfolgt die Gäste wahrscheinlich noch im Schlaf – behelligt zu werden, ist nicht einfach. Dann lieber noch ein Stück Kuchen und ein Kaffee beim „Königsbäcker“ und auf die alten Fotos schauen.
Text + Fotos: Tino Künzel
„Bei euch ist es wie in Europa“
Wenn Elena („Bitte schreiben Sie nicht meinen vollen Namen“) in ihrer Kaliningrader Studentenzeit mit Kommilitonen nach Selenogradsk kam, um auf der Uferpromenade in der Sonne zu sitzen und zu lernen, war der Ort noch viel ruhiger und „total langweilig“, wie sie sagt. Inzwischen ist es mit der Ruhe vorbei. Voriges Jahr haben die russische Exklave Kaliningrad zwischen Litauen und Polen nach offiziellen Angaben rund zwei Millionen Touristen besucht. „Da waren wir selbst erschrocken“, meint Elena lachend.
Sie wohnt in Selenogradsk zum Glück ein wenig abseits, wenn auch nur zehn Minuten vom Bahnhof entfernt und fünf Minuten vom Strand. Ihr Haus in der alten deutschen Westend-Siedlung hat im Obergeschoss zwei Gästezimmer, „das Erdgeschoss ist mein Revier“. 1999 sind ihr Mann und sie hier eingezogen: er der Deutsche aus Mecklenburg-Vorpommern, geboren auf der Insel Rügen, sie die Russin aus Tschernjachowsk, das einmal Insterburg hieß. Dort hatten sie sich auch kennengelernt und geheiratet. Später wohnte das Paar teils in Russland, teils in Deutschland.
Wo sich Deutsche und Russen treffen
Inzwischen ist ihr Mann, der deutsche Journalist, gestorben. Und sie sei, schmunzelt die Rentnerin, zum „Dinosaurier“ geworden. Aber ihr Haus ist nach wie vor ein Treffpunkt von Deutschen und Russen. Es geht dabei betont familiär zu.
Was sich in ihrer Stadt tut, verfolgt Elena mit viel Herzblut und noch mehr Skepsis. Vieles gefällt ihr nicht, vor allem der Massentourismus, der Einzug gehalten hat. Die Ostseeküste mit ihren ehemals deutschen Badeorten gehört mehr oder weniger zum Pflichtprogramm von Kaliningrad-Besuchern.
Und dann sind da auch noch die Kaliningrader selbst, für die Selenogradsk ein beliebter Tagesausflug ist. Mit dem Vorortzug oder per Schnellstraße ist man in einer halben bis Dreiviertelstunde da. Manche Kaliningrader lassen es sich nicht nehmen, sogar nach Feierabend noch einen Strandspaziergang zu unternehmen. Elena erlebt die Stadt im Sommer als „voll“ und „komplett ausgebucht“. Und sogar im Winter sei durchaus Betrieb.
Masse statt Klasse
Das allein ist nun nichts Schlechtes, aber Elena findet es schon „bitter“, wie mit der Geschichte umgegangen werde. Das alte Flair gehe immer mehr verloren. Selenogradsk sei zum Massenprodukt geworden, wie man das auch aus Polen oder der Türkei kenne. Es gebe kaum schöne Geschäfte, dafür aber jede Menge Kitsch. Die Katzen als Aushängeschild des Badeortes – das sei doch „kindisch“ und ziele wiederum auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ab. Quantität statt Qualität.
Würde man sich nicht, nur zum Beispiel, am Abend gern etwas Nettes anziehen und ausgehen wollen, um irgendwo in gediegener Atmosphäre mit einem Glas Sekt in der Hand einem Konzert zu lauschen? Aber dafür bräuchte es erst einmal eine Bühne, wo man Musik höre könnte.
Und so beklagt Elena einen allgemeinen Mangel an Geschmack, an Klasse, die das ehemalige Cranz hatte. Aber sie will auch nicht ungerecht sein, „man kann ja nicht nur kritisieren“. Selenogradsk wachse und entwickle sich. Nach und nach würden die Fassaden hergerichtet, auch Blumen seien in den letzten Jahren viele gepflanzt worden. Nach Zeitungsmeldungen bestehe sogar Hoffnung, dass endlich einer der größten Schandflecke verschwinde: eine Bauruine direkt an der Uferpromenade. Dort, wo einmal der Corso von Cranz war.
Gazprom hatte hier 2004 ein Hotel errichten wollen, doch das wurde nie fertig. Stattdessen fielen mal Dachziegel herunter, mal brannte gleich das gesamte Dach. Nun soll dieses Missverständnis aus Beton ganz beseitigt werden. Im Sommer wurde an seiner Stelle der Bau eines neuen Hotels bewilligt. Spätestens 2027 soll es Gäste empfangen können.
Aber Elena hat über die Jahre schon genug zu alle möglichen Plänen gelesen, die sich dann alsbald in Luft auflösten. Auch deshalb sagt sie in bestem Deutsch und fast entschuldigend: „Ich bin eine Pessimistin.“
Erosion des Ufers gestoppt
Ein Großprojekt der jüngeren Vergangenheit habe immerhin Wirkung gezeigt. Im Bereich der Innenstadt wurden neue Wellenbrecher in die Ostsee gepflockt. Das war höchste Zeit, denn vom Strand ist am Mittelteil der Promenade praktisch nichts mehr übrig. Gebadet werden kann nur noch ein Stück außerhalb der Innenstadt. Zentrumsnah hat die Strömung den Sand immer weiter abgetragen und ihn seitwärts in Richtung der Kurischen Nehrung gespült. Die Buhnen, sagt Elena, hätten verhindert, dass sich das Meer noch weiter ins Land frisst, und die bedrohliche Lage etwas entspannt: „Es war schon schlimmer.“
Und bei allem Kopfschütteln über dieses und jenes weiß sie auch, dass die Urlauber aus dem russischen Kernland in aller Regel zufrieden bis begeistert wieder nach Hause fahren. „Ich bin ja viel mit den Leuten in unserer Region unterwegs. Da heißt es immer wieder: Hach, wir schön ihr es hier habt.“ Und: „Bei euch ist es wie in Europa.“ Aber das ist eben wie Selenogradsk selbst: ziemlich dick aufgetragen.
Tino Künzel