Eine riesige Plane, die mit aufgedruckten Fenstern und Türen den Eindruck einer intakten Fassade erweckt, achtlos vorüberhetzende Fußgänger und eine Tafel, die nüchtern über die „Umsetzung dringender Brandschutzarbeiten“ informiert: Das Haus in der Nikolskaja 23 wirkt wie eines von vielen, die im Moskauer Zentrum saniert werden. Nichts deutet darauf hin, dass sich in dem Gebäude in der beliebten Fußgängerzone Historisches abgespielt haben könnte.
Ein Ort des Grauens
Dabei ist der unscheinbare Bau ein Ort des Grauens. Denn ab Mitte der 30er Jahre tagte hier das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR. Allein zwischen 1936 und 1938 – den Jahren des Stalinschen Großen Terrors – verurteilte das Repressionsorgan mehr als 31 000 Menschen zu Tode. Die Verfahren dauerten oft nicht länger als zehn Minuten. Anwälte waren nicht zugelassen, die Urteile nicht anfechtbar, eine Begnadigung nicht vorgesehen. Die Verurteilten wurden meist umgehend im Keller erschossen, die Leichen in Munitionskisten aus dem Haus geschafft und im Krematorium des nahe gelegenen Donskoi-Klosters eingeäschert. Für viele Moskauer heißt der tragische Ort seitdem kurz und einfach nur „Erschießungshaus“. Alexej Nesterenko war ein Jahr alt, als sein Vater 1938 in der Nikolskaja 23 zum Tode verurteilt wurde. Der mittlerweile 82-Jährige gehört zu den entschiedensten Vorkämpfern für ein Museum in der Nikolskaja 23. „Es sind Gedenkstätten in Kommunarka und Butowo entstanden“, erinnert der Aktivist in einem YouTube-Video an bekannte Erschießungsplätze aus der Stalin-Zeit am Moskauer Stadtrand. „Aber hier? Überhaupt nichts!“ Das dürfe nicht sein, findet der Rentner, der seit mehr als sieben Jahren an jedem Mittwoch bei Wind und Wetter vor dem Haus demonstriert. „Die ganzen Verbrechen haben hier stattgefunden“, sagt er. „Die Reue muss von hier ausgehen.“
Kommerz und Konsum – im Erschießungskeller
Auch die Menschenrechtsorganisation Memorial und das Moskauer Gulag-Museum machen sich für ein Museum in der Nikolskaja 23 stark. Doch statt Gedenken könnten bald Kommerz und Konsum einziehen. Denn in dem Haus mit der blutigen Geschichte soll bald ein exquisiter Parfümladen öffnen. So lauten zumindest die Pläne des Geschäftsmannes Wladimir Dawidi, über welche Moskauer Zeitungen jüngst informierten. Dawidi, der das Gebäude bereits 2016 erwarb, kommentiert die Berichte nicht. Ein Schild an der Baustelle kündigt das Ende der Sanierungsarbeiten in der Nikolskaja 23 allerdings bis zum Ablauf des Jahres an. Den Maßstab des Aderlasses in dem unscheinbaren Bau verdeutlicht auch ein Blick auf die prominenten Opfer. So wurden in der Nikolskaja 23 unter anderem der Schriftsteller Isaak Babel, der Theaterreformer und Regisseur Wsewolod Meyerhold sowie der als „roter Napoleon“ berühmt gewordene Sowjet-Marschall Michail Tuchatschewski zu Tode verurteilt. Auch gegen Stalins Konkurrenten Bucharin, Sinowjew und Kamenew wurde hier die Höchststrafe verhängt. Fast alle Opfer wurden nach Stalins Tod rehabilitiert. Historisch gesehen sind die aktuellen Pläne für die Parfümerie nicht einmal besonders unsensibel. Denn seit dem Ende der Sowjetunion brachten die wechselnden Besitzer der Immobilie bereits auch Vorschläge für die Errichtung eines Vergnügungszentrums oder eines Parkhauses ins Spiel. Jüngst berichtete ein lokaler Fernsehsender gar über die angeblich geplante Eröffnung eines Restaurants in dem früheren Erschießungskeller.
Kampf um Museum geht weiter
Mehr als 20 Jahre währt bereits auch der Kampf von Bürgerrechtlern und Historikern für ein Museum. Im Jahr 2013 schienen die Aktivisten ihrem Ziel bereits ziemlich nahe. Damals verfügte Russlands Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich die Einrichtung einer Gedenkstätte in der Nikolskaja 23. Doch in der Praxis geschah wenig. Der damalige Besitzer und Duma-Abgeordnete Michail Slipentschuk zog die Verhandlungen um das Grundstück mit überzogenen Preisvorstellungen in die Länge. 2013 wechselte das Haus dann den Besitzer. Mit Ablauf dieses Jahres dürfte der Dauer-Streit nun in eine neue Runde gehen. Denn auch Laien können mit kurzem Blick erkennen, dass die Bauarbeiten in der Nikolskaja 23 noch lange nicht abgeschlossen sind. Zudem hüllt sich Besitzer Wladimir Dawidi zu seinen Plänen weiter in Schweigen. Und so wird Alexej Nestorenko auch weiter vor dem Haus demonstrieren, in dem ihm der Vater genommen wurde.
Birger Schütz