Nachworte auf ein verflossenes Land: Russen über das Ende der Sowjetunion

Gäbe es die Sowjetunion noch, dann würde sie heute seit 99 Jahren bestehen. Gegründet am 30. Dezember 1922, trat das rote Riesenreich jedoch bereits Ende 1991 relativ sang- und klanglos von der Weltbühne ab. Zuvor hatten alle 15 Unionsrepubliken nacheinander ihren Austritt aus dem Staat erklärt. Wie haben gewöhnliche Russen diese Zeit erlebt? Die MDZ lässt an dieser Stelle einige zu Wort kommen.

Übervater Lenin: Sowjetsymbolik auf einem Wimpel von damals (Foto: Tino Künzel)

Traum vom besseren Leben

Walerij Patrakow, Nachwuchs-Fußballtrainer in der nordrussischen Kleinstadt Sosnogorsk (Komi-Republik), 54 Jahre

Was mit uns Anfang der 1990er Jahre passiert ist, kann ich an einem Beispiel illustrieren. Die Oma meiner Frau hatte wenige Monate vor dem Ende der Sowjet­union 56.000 Rubel auf dem Sparbuch. Das war ein kleines Vermögen, wenn man bedenkt, dass der Durchschnittslohn damals bei unter 300 Rubel lag. Von dem Geld hätte man fünf Wolgas kaufen können – und das war nach sowjetischen Maßstäben ein Luxusauto. Aber als der Sohn der Oma kurz nach der Auflösung der Sowjetunion die Summe abhob, reichte sie kaum noch für den Kauf eines Videorekorders. Die Ersparnisse von Jahren und Jahrzehnten lösten sich buchstäblich in Luft auf. Man fing praktisch noch mal von vorn an.

Ich habe am 17. August 1991 geheiratet und war so glücklich, dass alles andere um uns herum nicht mehr die erste Geige spielte. Zwei Tage nach unserer Hochzeit begann in Moskau der Putsch (Anm. d. Red.: gescheiterter Versuch reformfeindlicher Kräfte, eine von Gorbatschow angedachte Umwandlung der Sowjetunion in eine Konföderation zu verhindern), aber das sah man staunend im Fernsehen, als ginge es einen nichts an.

Zwei Jahre davor war ich vom Wehrdienst zurückgekehrt, den ich in der Tschechoslowakei abgeleistet hatte. Was es dort alles im Laden gab, war für uns unfassbar. In der Sowjetunion war manches nur noch auf Lebensmittelkarten zu haben. Ich kann nicht sagen, dass wir gehungert hätten. Bei unserer Hochzeitsfeier zum Beispiel waren die Tische so gedeckt, wie sich das gehört. Aber der allgemeine Niedergang war nicht zu übersehen. Das Land fiel langsam auseinander und ich habe das nicht sonderlich bedauert. Man sagte sich damals, dass es uns viel besser gehen würde, wenn wir nicht mehr andere Unionsrepubliken oder Länder mit durchschleppen müssten. Mancher meinte sogar, dass sich die rohstoffreiche Komi-Republik für unabhängig erklären sollte, und träumte davon, dass wir zu den russischen Emiraten werden würden.

Von vielem in der Sowjetunion hatte man damals die Nase voll: von den leeren Losungen, der ewigen Beschönigung der Lebensverhältnisse, der Mangelwirtschaft, den Privilegien der Parteikader. Dieses Land hätte anders sein sollen und, denke ich, auch können.

Zeichen der Zeit: Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft in Moskau am 31. Dezember 1991 (Foto: Jurij Abramotschkin/RIA Novosti)

Wandel ja, aber nicht so

Alexander Heier, Direktor des Deutsch-Russischen Hauses im sibirischen Tomsk, 58  Jahre

Wäre ich zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion so alt gewesen, wie ich heute bin, und hätte nicht das ganze Leben noch vor mir gehabt, dann hätte ich mich sicher mit den Vorgängen damals um einiges schwerer getan. Denn für viele Menschen war das alles eine große Tragödie. Ich zum Beispiel bin in Kasachstan geboren und aufgewachsen, in einer Familie von Russlanddeutschen, die zu Sowjetzeiten dorthin deportiert wurden. Als ich 1992 meine Eltern besuchte, die damals noch dort wohnten, war das bereits Ausland und ich ein Ausländer – in meinem eigenen Heimatort.

Viele wollten in den letzten Sowjetjahren tatsächlich Wandel. Man hatte das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann, dass sich etwas ändern muss. Aber das hätte man anders anstellen können, indem man die Sowjetunion umgestaltet, ohne sie zu zerstören. Ich empfinde es als Verlust, dass es nicht gelungen ist, diesen Vielvölkerstaat zu erhalten.

Manche belächeln ja heute das Wort von der Völkerfreundschaft, so als habe es sie überhaupt nicht gegeben. Doch wenn ich mir die Situation bei uns in Tomsk anschaue, wo viele Volksgruppen in einer Stadt zusammen leben, dann basiert die Verständigung untereinander vor allem auf unserer gemeinsamen Vergangenheit. Sie verbindet nach wie vor. 1991 wussten wir noch nicht, was auf das Ende der Sowjetunion folgen würde: zwei Kriege im Nordkaukasus, die Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Im Lichte dessen erscheint vielen die Sowjetunion in der Rückschau fast schon als Ideal.

Lob der Pionierzeit

Olga Stupakowa, Direktorin eines Sanatoriums in Wolgoretschensk an der Wolga, 49 Jahre

War das Leben früher besser als heute oder umgekehrt? Mit solchen Bewertungen halte ich mich zurück. Ich kann mich auch nicht an prägnante Momente aus dem Übergang von einer Zeit in die andere erinnern. Damals habe ich gerade die Schule abgeschlossen. Und ich muss Ihnen sagen: Ich hatte eine gute Kindheit. Natürlich war ich bei den Pionieren. Das bedeutete nicht nur, ein Halstuch zu tragen, es war eine Herzensangelegenheit, eine Verpflichtung. Ehre, Ehrenwort – solche Ideale nahmen wir ernst. Außerschulische Aktivitäten gehörten wie selbstverständlich dazu. Ich kann mich manchmal nur wundern, wenn ich heute wohlklingende Begriffe wie „Freiwilligenarbeit“ höre und davon ein großes Aufheben gemacht wird. Für uns war das normal, es wäre niemandem eingefallen, das irgendwie besonders herauszustellen.

Einmal, bereits in der Perestroika-Zeit, durfte ich ins Pionierlager „Artek“ auf die Krim fahren. Das war eine Auszeichnung, so einen Aufenthalt konnte man nicht einfach im Reisebüro kaufen. Andererseits sind wir, als wir Komsomolzen waren, mit Pionieren, die wir unter unsere Fittiche genommen hatten, nach Moskau zum Roten Platz gefahren. Nicht mit allen, sondern mit denen, die sich das durch ihr Verhalten verdient hatten, durch Hilfsbereitschaft, Achtung gegenüber Älteren. Die waren dann umso stolzer, das Halstuch tragen zu dürfen. Ein solcher Respekt vor der Symbolik ist wichtig. Wir haben in Russland lange gebraucht, um ihn wiederherzustellen.

Bis heute gratulieren wir Ex-Pioniere uns gegenseitig zum Geburtstag der Pionierorganisation am 19. Mai. Nächstes Jahr steht der 100. Geburtstag an. Das wird gefeiert.

Ausstellungsstücke in einem neuen Moskauer Museum unter dem Namen „Land der Räte“ (Foto: Kirill Sykow/AGN Moskwa)

Gewohnt heißt nicht gut

Wladimir Schesterow, Bestattungsunternehmer aus Scharja (Region Kostroma), 60  Jahre

Die Sowjetunion wurde von zehn Jahren Bandenkriminalität abgelöst. Bei uns in der Stadt waren Schießereien an der Tagesordnung. Viele, die dabei mitgemacht haben, liegen heute auf dem Friedhof.

Ich trauere aber deshalb nicht etwa der Sowjetunion nach. Wenn sie heute noch existierte, dann würde ich immer noch Traktor fahren. Es gab keine Arbeitslosigkeit, aber auch keine Freiheit. Alles wurde kontrolliert, alle verdienten ungefähr das Gleiche, egal, ob man nun viel arbeitete oder wenig. Einfach so ins Ausland zu fahren, war undenkbar. An dieses Leben hatte man sich irgendwie gewöhnt, aber das waren schon Verhältnisse wie in einer Diktatur.

Dazu kam zunehmend die schlechte Versorgung. Ich habe als Traktorfahrer in einer Möbelfabrik gearbeitet. Wenn es für 19 Tage in den Wald zum Holzeinschlag ging, gab es dafür vom Betrieb entsprechend Lebensmittel. Davon haben wir die Hälfte zu Hause abgeliefert, damit die Familie genug zu essen hatte. Von Sowjetnostalgie bin ich deshalb weit entfernt.

Zusammengestellt von Tino Künzel

Die gute alte Zeit

Auch 30 Jahre nach ihrem Ableben bleibt die Sowjetunion für die Russen ein Sehnsuchtsland. Ihre Sympathiewerte sind unverändert hoch – auch bei jüngeren Bevölkerungsschichten ist eine positive Sicht weit verbreitet. Was verraten Umfragen neueren Datums über das Verhältnis zur Sowjetunion?

  • 67 Prozent der Russen tut es leid, dass die Sowjetunion vor 30 Jahren abgewickelt wurde. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM im Frühjahr. Diese Zahl sei seit 2005 stabil, hieß es dazu. Allerdings erklärten 72 Prozent auch, eine Wiederherstellung der Sowjetunion sei unmöglich. Und nur 49 Prozent würden sie begrüßen.
  • Bei einer im September veröffentlichten Umfrage des Lewada-Zentrums* nach ihren bevorzugten politischen Systemen wählte fast die Hälfte der Befragten das Sowjetmodell – der höchste Wert seit Anfang der 2000er Jahre. Nur 18 Prozent präferierten die heutige Staatsform, noch weniger (16 %) würden sich eine Demokratie nach westlichem Vorbild wünschen. In der jüngsten Altersgruppe (18 bis 24 Jahre) waren es immerhin noch 30 Prozent, die sich für das sowjetische System aussprachen.
  • In einer Lewada*-Studie vom März 2020 bezeichneten 75 Prozent die Sowjetzeit als beste Epoche in der Geschichte des Landes. Die häufigsten Assoziationen mit dieser Ära lauteten „Stabilität und Zuversicht ins Morgen“ (16 %), „gutes Leben im Lande“ (15 %) sowie „Kindheit, Jugend, Eltern“ (11 %). Auf den „sowjetischen Weg“ würden jedoch nur 28 Prozent zurückkehren wollen. Ein russischer „Sonderweg“ erscheint verlockender, dafür votierten 58 Prozent.
  • Dabei ist unklar, inwiefern die Schwärmerei für die Sowjetunion tatsächlich auf Erfahrungen oder Wissen aufbaut. Denn viele scheinen sich mit der Sowjet­union nicht unbedingt gut auszukennen. Bei einer aktuellen Umfrage von WZIOM konnten nur rund 65 Prozent der erst in postsowjetischer Zeit Geborenen die Abkürzung UdSSR korrekt (oder überhaupt) dechiffrieren. Von allen Befragten waren lediglich sechs Prozent in der Lage, die 15 ehemaligen Sowjetrepubliken aufzuzählen. 27 Prozent fiel keine einzige ein.

* Das Lewada-Zentrum gilt in Russland als „ausländischer Agent“.

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