Galerie der Idylle und des Protestes

Im kleinen Borowsk, eine Stunde Fahrt von Moskau entfernt, gibt es die wahrscheinlich größte Bildergalerie unter freiem Himmel in Russland. Die Fresken stammen von einem Maler, von Wladimir Owtschinnikow. Sie erzählen über Vergangenheit und Gegenwart des Städtchens, auch über „unbequeme“ Seiten.

Freske „Veränderung! Das ist es, wonach unsere Herzen verlangen!“ von Wladimir Owtschinnikow (Foto: Olga Silantjewa)

„Veränderungen! Das ist es, wonach unsere Herzen verlangen! Wiktor Zoi. 2022“. An einem alten zweigeschossigen Haus mit abblätternder Fassade prangt das Porträt des bekannten sowjetischen Rockmusikers. In der Hand eine Gitarre, darauf sitzt eine Taube. Daneben eine Zeile aus seinem Lied „Ich will Veränderungen“. Die bekannte Hymne aus der Perestroika-Zeit wurde in den letzten Jahren oft für politische Ziele verwendet: während der Proteste im Gebiet Chabarowsk im Jahre 2020, bei den Aktionen zur Unterstützung der inhaftierten Oppositionspolitiker und 2022 von den Protestierenden gegen die russische Spezialoperation in der Ukraine.

Rebell, Heizer, Rocker

Wir sind mit der Familie an einem Herbstsamstag nach Borowsk gefahren, um die berühmten Fresken zu sehen. Geparkt haben wir im Zentrum, an den Handelsreihen. Und wie es sich herausstellte, unweit des Bildes „Veränderungen!“. Der Satz und das darauf stehende Jahr weisen eindeutig darauf hin, welche Veränderungen vonnöten sind. Ist das möglich, dass man heute so offen seine Meinung zum Geschehen in Russland ausdrücken kann? Und das in dieser verschlafenen Stadt mit zehntausend Einwohnern? Kaum zu glauben.

Borowsk in der russischen Geschichte

Handelsreihen von Borowsk (Foto: Olga Silantjewa)

Die auf den ersten Blick verschlafene Stadt hat in ihrer Geschichte nicht wenige Erschütterungen erlebt. Sie wurde 1358 gegründet. Im 15. Jahrhundert war sie ein großes kulturell-religiöses Zentrum des Moskauer Staates. Das Borowsker Pafnuti-Kloster erinnert an diese Periode der Geschichte, heute ist es ein Objekt des kulturellen Erbes föderaler Bedeutung. Zar Iwan III. bildete hier seine Truppen aus, um die Mongolen zu besiegen und ihr zweihundertjähriges Joch abzuschütteln.

Im 17. Jahrhundert war die Stadt der Verbannungsort für die bekanntesten Altgläubigen der Rus, für den Erzpriester Awwakum und seine Mitstreiterin, die Bojarin Morosowa. An der Stelle, wo sie ums Leben kam, steht jetzt eine Kapelle. In der Stadt gibt es viele Kirchen. Seit 2020 gehört Borowsk im Gebiet Kaluga zu den 45 Städten und Dörfern, die als „historische Siedlungen Russlands“ gelten. So werden offiziell Siedlungen mit einer hohen Konzentration an kulturell wertvollen Objekten genannt.

Der Globus von Borowsk

Ziolkowski und Maria-Verkündigung-Kirche (Foto: Tino Künzel)

Aber Borowsk ist für die meisten Touristen nicht wegen seiner Sehenswürdigkeiten aus fernen Zeiten attraktiv. Die Stadt ist heute dank ihrer Fresken bekannt. Das ist einzigartig in Russland. Es sind schon über einhundert Fresken. Wenn man die Polyptychen mitzählt, kommt man auf über dreihundertfünfzig. Hier sind an den Wänden die Handelsreihen, vorrevolutionäre Gässchen oder Kathedralen abgebildet. Aber hier gibt es auch das „sowjetische Borowsk“, eine graue Stadt, deren einziger leuchtender Fleck ein gelbes Bierfass ist. Kaufleute und Fräuleins des 19. und Kinder des 21. Jahrhunderts. Hunderte einfacher Bürger der Stadt. Einer schuftet im Garten, ein anderer eilt zur Arbeit oder putzt Fenster.

Globus von Borowsk (Foto: Olga Silantjewa)

An der Giebelseite des Hauses Nummer 1 in der Kommunistitscheskaja-Straße ist ein großer „Globus von Borowsk“ zu sehen. Eine runde Karte der Stadt und Leute, die zu Ruhm gelangt sind. Unter ihnen der Wissenschaftler Konstantin Ziolkowski (der „Vater der Raumfahrt“ arbeitete 12 Jahre als Lehrer in der Stadt), der Mathematiker Pafnuti Tschebyschew und der Admiral Dmitri Senjawin, der in der Nähe von Borowsk geboren wurde. Rechts neben dem Globus eine Liste mit Erklärungen.

Schau’n wir mal, wo Napoleon 1812 übernachtet hat oder an welcher zur Garage umfunktionierten Kirche der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow vorbeigefahren war und danach gesagt hat „wieder aufbauen“. Eine Grünanlage, die in Ordnung gebracht werden soll, ist gekennzeichnet und Stellen, wo Papierkörbe bisher nicht hingestellt wurden mit „nirgends“. Es gibt von allem viel. Hier finden wir die Themen einiger der bekanntesten Borowsker Fresken. Man kann sie lange anschauen. Rechts neben dem Globus ein Vierzeiler. Kurze Gedichte ergänzen viele Fresken in der Stadt.

Beim Mathematiker Tschebyschew

Wir überqueren die Straße. In der Kommunistitscheskaja 2 finden wir das Computermuseum. Aus dem Fenster schaut uns das Bild von Tschebyschew an. Ein betagter Mann zieht die Farben des Porträts nach. Nach den Pinseln in seiner Hand und den mit Farbe beklecksten Jeans zu urteilen, ist das der Autor der Fresken Wladimir Owtschinnikow. Wir lernten ihn also rein zufällig kennen.

Wladimir Owtschinnikow (Foto: Olga Silantjewa)

Der Banksy von Borowsk

Wladimir Owtschinnikow wurde 1938 in Duschanbe geboren. Kurz davor wurde sein Vater Opfer von Repressivmaßnahmen und zu 10 Jahren Kolyma verurteilt. Er schloss sein Studium am Institut für Bauwesen ab und arbeitete als Wirtschaftsingenieur. 1977 verteidigte er seine Doktorarbeit. Bis 1998 lebte er in Moskau, dann zog er nach Borowsk in das Haus, in dem sein Vater gewohnt hatte. Er begann aktiv zu malen, zuerst auf Leinwand, dann an Wänden. Er lernte die Dichterin Elvira Tschastikowa aus dem benachbarten Obninsk kennen, die er 2003 heiratete. Es sind ihre Vierzeiler, die die Bilder Wladimir Owtschinnikows vervollkommnen.

Die Stadtverwaltung ist sicher stolz darauf, dass die Fresken die Stadt heraushoben und einmalig machten, besonders jetzt, wo alle Regionen auf die Entwicklung des Inlandstourismus bedacht sind. Aber so ist es wohl nicht. „Ich habe keinerlei Kontakt mit der Verwaltung“, erzählt der 84-Jährige, „ich kenne deren die Reaktion auf meine Arbeiten gar nicht“. Von Maßnahmen zur Erhaltung seiner Zeichnungen kann keine Rede sein. Mehr noch, nach seinen Zählungen sind ungefähr 50 Arbeiten schon verloren gegangen. „Aus den verschiedensten Gründen“, berichtet Owtschinnikow, „manchmal ist das Gebäude selbst verschwunden und mit ihm das Bild. Aber am häufigsten wurden die Arbeiten übermalt oder übertüncht, weil sie der Obrigkeit nicht passten“.

Der Vergleich mit dem britischen Banksy, den Journalisten häufig anführen, gefällt Owtschinnikow nicht. „Ich finde den Vergleich nicht korrekt“, erklärt der Borowsker. „Zu verschieden sind wir in der Thematik und der Technik der Ausführung. Und Banksy hat keinen Co-Autor“.

Das Abhacken des Gedächtnisses

Am häufigsten „leiden“ die Arbeiten, die die politischen Repressionen zum Thema haben. Als wir durch Borowsk bummelten, wurden wir auf die Freske „1937. Das Abhacken des Gedächtnisses ist eine Sünde!“ aufmerksam. Wir befragten den Künstler dazu. Owtschinnikow antwortete, dass es 20 ähnliche Arbeiten gab, aber „übrig geblieben sind nur eine oder zwei“. „Selbst die Inschrift ,kein Gedächtnis, kein Volk’ haben sie übertüncht. Was soll denn daran kriminell sein?“

Das Abhacken des Gedächtnisses ist eine Sünde! (Foto: Olga Silantjewa)

Wladimir Owtschinnikow hat viele Jahre in der Stadt ein Denkmal für die Opfer politischer Repressalien durchgeboxt. Es ist entstanden, aber nicht in der Gestalt, die der Maler sich gewünscht hätte, mit den Namen und Porträts der Borowsker, die den Repressalien zum Opfer gefallen waren. Dafür stellte die Stadtverwaltung 2017 einen namenlosen Stein von den Solowezker Inseln auf. Aber als Wladimir Owtschinnikow am 30. Oktober 2018, am Tag der politischen Repressalien, an diesem Stein die Aktion „Zurückgegebene Namen“ durchführen und die Namen der Repressierten verlesen wollte, ließ dies das Bürgermeisteramt nicht zu. „Jetzt findet eine totale Säuberung des Gedächtnisses statt, weil das Gedenken an die Verbrechen des Staates unseren Machthabern unangenehm ist“, glaubt der Maler und Heimatforscher. Er hat die Namen von über eintausend Einwohnern von Borowsk, die in der Stalinzeit unterdrückt wurden, wiederhergestellt und das Gedenkbuch veröffentlicht.

„Ich will Veränderung“

Ein weiterer Teil der Zeichnungen, „die unterdrückt werden“, entstanden nach dem 24. Februar und am 21. September nach der Verkündung der Teilmobilmachung. Darunter sind Porträts des Dichters Jewgeni Jewtuschenko mit dem Satz „Meinst du, die Russen wollen Krieg“, des Sängers Wladimir Wyssozki „Über Totenköpfe und Leichen, Meter um Meter, gehen die Soldaten der Heeresgruppe Mitte durch die Ukraine“ und noch andere Bilder dieser Art. Einige konnten sich einen oder zwei Monate halten. Wiktor Zois Satz „Veränderungen! Das ist es, wonach unsere Herzen verlangen!“ schmückt die Stadt schon ein halbes Jahr. Noch ein weiteres Antikriegsbild hat „überlebt“, das Fensterbild „Nostalgie“. Das ist der Verweis auf ein sowjetisches Plakat, auf dem eine Russin und eine Ukrainerin nebeneinander stehen und die Freundschaft zweier Völker symbolisieren.

Hin und wieder bestraft die Verwaltung den Künstler für Rowdytum, für Zeichnungen an den Wänden. Sie stellen ihm Strafzettel über Gesetzesverstöße aus. Aber sie stellen das nicht mit politischen Aktionen auf eine Stufe. Wir fragen, ob er Angst hat. „Lassen wir diese Frage. Ich mache das, also muss es wohl sein. Wenn ich es nicht tue, so bedeutet das, dass ich bei diesem Verbrechen mitmache“, entgegnet Wladimir Owtschinnikow.

Von Olga Silantjewa

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