Die Krähen mag er nicht, diese „wirklich bösen, dreckigen Aasfresser, Abfallvögel, die Infektionen übertragen“, er schießt sie immer wieder vom Nachbardach ab. Von seiner Wohnung aus, mitten in Moskau, mit Blick auf das Konservatorium. Denn Ordnung ist dem „Boss“ am wichtigsten und diese ekligen Krähen – um die tut es ihm nun wirklich nicht leid. Nikolai II., der letzte Zar, habe schließlich auch welche geschossen.
Der Boss ballert gern, ist spendabel und lässt die Puppen tanzen. Er ist ein Investor in der Finanzbranche, der sein Geschäft versteht und sich darauf etwas einbildet. Aus diesem Grund wohl nennen ihn der Historiker Jewgeni und der Musikprofessor Raphael ironisch den „Mann der Renaissance“. Selbstverständlich nur unter sich. Die beiden sollen einen kultivierten Menschen aus ihm machen, dafür unterrichten sie ihn viermal die Woche. Nur will die Weiterbildung nicht so richtig voranschreiten: Moderne Musik empfindet der Boss als Zumutung und im Alten Testament begegnet ihm nur „eine Unmenge unmotivierter Gewalt“.
Mit dieser subtilen Ironie läuft die Erzählung auf einen Abgrund zu. Unser „Mann der Renaissance“ ist nämlich primär den nützlichen Werten Ordnung und Zuverlässigkeit verpflichtet. Und natürlich ist das Geld wichtig, denn „arm zu sein ist eine Schande“. Alles andere ist sowieso käuflich. Die heiß geliebte Ordnung wird ihm aber zum Verhängnis, denn statt auf eine Krähe schießt er auf ein Mädchen, das gerade eine große, ekelhaft hellrosa Kaugummiblase aufbläst.
Zeitgenössischer Tschechow
Die Prosa des Arztes und Schriftstellers Maxim Ossipow ist einfach, verliert sich nicht in Einzelheiten und wartet mit einem vielfältigen Personal auf, den Bewohnern des postsowjetischen Kosmos: fliegende Händler, tadschikische Gastarbeiter, jüdische Musiker, passionierte Theaterleute oder ehemalige Geheimdienstler. Manches bleibt unausgesprochen oder wird nur gestreift.
Seit 2006 veröffentlicht Maxim Ossipow Erzählungen und Essays, die ihm den Ruf eines modernen Tschechow eingebracht haben. Seine Dramen werden in Russland oft aufgeführt und seine Werke wurden mittlerweile in zwölf Sprachen übersetzt. Die Kurzgeschichte „Moskau- Petrosawodsk“ erhielt 2010 den Kasakow-Preis für die beste Geschichte des Jahres. Hier begegnen wir im Zug einem Arzt, der zu einer Konferenz nach Petrosawodsk fährt. Nachdem ein Mitreisender in seinem Abteil plötzlich in ein Delirium tremens fällt, ruft der Arzt nach dem Schaffner, der sofort die Polizei verständigt. Die Polizisten prügeln den Fahrgast und dessen Kumpan halbtot und schleppen beide weg. Der besorgte Arzt ist über diesen Vorgang schockiert und sucht in Petrosawodsk einen Bekannten auf, der bei der Polizei arbeitet und ihm die Augen öffnet: Die beiden Männer seien schlimme Verbrecher, die ihre Opfer brutal verstümmelt haben sollen. Der Arzt ist entsetzt. Der Bekannte meint dazu nur, er solle nicht weiter darüber nachdenken, „Mörder sind durchschnittliche Menschen“. Auch hier schließt sich der Kreis und Ossipow lässt wie so oft die Gerechtigkeit siegen.
Literarische Diagnosen
Ossipow, der als Kardiologe in einer Klinik in Tarussa, hundert Kilometer südlich von Moskau, arbeitet, beschreibt die Welt präzise und schonungslos. Wie ein Arzt, der nach Krankheiten sucht. Bei der Diagnose bleibt er nicht stehen, er zückt auch das Skalpell. Die Welt, die er sich so zurechtlegt, ist oft erstarrt. Geschehnisse können den Fluss des Lebens nicht umlenken und eine gewisse Resignation macht sich breit. Seine Kurzgeschichten erzählen von einsamen Menschen, die in ihrer Einsamkeit gerne bleiben wollen. Wie in „Der polnische Freund“, in der eine Geigerin lieber mit der Illusion eines Freundes lebt, anstatt diesen Wunsch wahr werden zu lassen. Oder in „An der Spree“, der Geschichte zweier Schwestern, den Töchtern eines sowjetischen Agenten. Die eine wächst in Deutschland auf, die andere in Russland. Als sie sich im Erwachsenenalter treffen, finden sie keine Berührungspunkte mehr. Die Familienzusammenführung scheitert, das Leben geht weiter.
Der österreichische Hollitzer-Verlag brachte nun Ossipows Erzählungen unter dem Titel „Nach der Ewigkeit“ auf Deutsch heraus. Es ist das Buch eines nachdenklich- nostalgischen Autors, dessen Realismus von depressiven Zügen überschattet ist: seien es die Schicksalsergebenheit seiner Protagonisten oder die Abgründe, die sich im Laufe der Geschichte offenbaren. Es herrscht zu viel Leid in Ossipows Geschichten, aber zum Glück keine Verzweiflung.
Irina Kilimnik