1. Die ungeheure Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Bei schwerer Arbeit, Kälte, Hunger und Schlägen dauert es nur drei Wochen, bis der Mensch zum Tier wird.
2. Was der Seele am meisten zugesetzt hat, war die Kälte. In den Lagern Zentralasiens haben die Menschen vermutlich länger durchgehalten, dort war es wärmer.
3. Ich weiß jetzt, dass Freundschaft und Kameradschaft niemals unter schwierigen, tatsächlich schwierigen – lebensgefährlichen – Bedingungen entsteht. Freundschaft entsteht unter schwierigen, aber erträglichen Bedingungen (im Krankenhaus, nicht im Schacht).
4. Ich weiß, dass sich der Mensch länger als alles andere das Gefühl der Bosheit bewahrt. Das Fleisch eines hungrigen Menschen ist nur zu Bosheit fähig – alles andere ist ihm egal.
5. Ich kenne nun den Unterschied zwischen dem Gefängnis, das den Charakter stählt, und dem Lager, das die menschliche Seele korrumpiert.
6. Ich habe verstanden, dass die Stalinschen „Siege“ errungen wurden, weil er Unschuldige ermorden ließ. Eine Organisation von einem Zehntel der Größe, aber eben organisiert, hätte Stalin binnen zwei Tagen gestürzt.
7. Ich habe verstanden, dass der Mensch zum Mensch geworden ist, weil er stärker und zäher ist als jedes Tier. Kein Pferd hält die Arbeit im hohen Norden aus.
8. Ich habe festgestellt, dass die Einzigen, die sich trotz Kälte und Erniedrigung ein Mindestmaß an Menschlichkeit bewahrt haben, die Gläubigen waren: fast alle Sektenmitglieder und der Großteil der Popen.
9. Am leichtesten und schnellsten sind die Parteiarbeiter und Armeeangehörigen umgefallen.
10. Ich habe gesehen, welch triftiges Argument für einen Intelligenzler eine gewöhnliche Ohrfeige darstellt.
11. Dass das Volk die Aufseher nach der Wucht und dem Eifer ihrer Schläge unterteilt.
12. Prügel sind als Argument fast unwiderstehlich (Methode Nummer 3).
13. Ich habe die Wahrheit über die Vorbereitung geheimnisvoller Prozesse von den Meistern solcher Dinge erfahren.
14. Ich weiß jetzt, warum sich im Gefängnis politische Nachrichten (Festnahmen etc.) früher herumsprechen als in Freiheit.
15. Ich habe begriffen, dass im Gefängnis (wie auch im Lager) nie nur die Latrine stinkt.
16. Ich habe gelernt, dass es möglich ist, mit Bösartigkeit zu leben.
17. Ich habe erkannt, dass es möglich ist, mit Gleichgültigkeit zu leben.
18. Ich habe begriffen, warum der Mensch nicht von der Hoffnung lebt, wenn es doch dort keine Hoffnung gibt, nicht von der Freiheit (was herrscht dort schon für Freiheit), sondern vom Instinkt, dem Selbsterhaltungstrieb, also demselben Ursprung wie ein Baum, ein Stein, ein Tier.
19. Ich bin stolz darauf, von Anfang an, noch 1937, beschlossen zu haben, dass ich nie ein Brigadier sein will, wenn mein Wille zum Tod eines anderen Menschen führen kann, wenn mein Wille der Obrigkeit dient, indem andere Insassen, solche wie ich, unterdrückt werden.
20. Meine körperlichen wie geistigen Kräfte haben sich in dieser gewaltigen Prüfung als größer erwiesen, als ich gedacht hätte, und ich bin stolz darauf, niemanden verraten, in den Tod geschickt, vor den Richter gebracht und denunziert zu haben.
21. Ich bin stolz, bis 1955 keinen einzigen Antrag gestellt zu haben. (Anm. d. Red.: 1955 beantragte Schalamow seine Rehabilitierung.)
22. Ich habe vor Ort die sogenannte „Berija-Amnestie“ verfolgen können – da gab es einiges zu sehen.
23. Ich habe gelernt, dass Frauen anständiger und selbstloser sind als Männer. An der Kolyma hat es keine Fälle gegeben, dass Männer ihre Frauen besuchen gekommen sind. Die Frauen sind gekommen, viele.
24. Ich habe die erstaunlichen Familien gesehen, die sich im Norden aus Zivilbeschäftigten und ehemaligen Lagerinsassen bilden, und ihre Briefe an die „rechtmäßigen Ehemänner und Ehefrauen“ usw.
25. Ich habe die „ersten Rockefeller“ – Untergrund-Millionäre – gesehen und ihre Geständnisse gehört.
26. Ich habe Zwangsarbeiter gesehen und viele vom „Kontingent D“, „B“ usw., „Berlag“.
27. Mir ist klar geworden, dass man vieles erreichen kann (Krankenhaus, Verlegung), aber sein Leben riskiert (Schläge, eisige Strafzelle).
28. Ich habe eine Strafzelle aus Eis gesehen, die in den Fels gehauen war, und selbst in ihr eine Nacht verbracht.
29. Das Fieber der Macht, des folgenlosen Mords ist groß – von den Chefs bis zu den einfachen Beamten mit Gewehr.
30. Die Neigung des russischen Menschen zur Denunziation, zur Beschwerde ist unbändig.
31. Ich habe verstanden, dass die Welt sich nicht in gute und schlechte Menschen unterteilt, sondern in Feiglinge und jene, die es nicht sind. 95 Prozent der Feiglinge sind bei der geringsten Gefahr zu allen möglichen Gemeinheiten fähig, zu tödlichen Gemeinheiten.
32. Ich bin überzeugt, dass das Lager von vorn bis hinten eine negative Schule ist, man sollte keine Stunde in ihm verbringen müssen, denn das ist eine Stunde der Zersetzung. Nie hat das Lager irgendwem etwas Positives gegeben und geben können. Auf alle – die Häftlinge und die Zivilbeschäftigten – wirkt es zersetzend.
33. Jede Region, jede Baustelle hatte ihre Lager. Mit Millionen von Häftlingen, Dutzenden Millionen.
34. Von Verfolgung war nicht nur die Führungsschicht, sondern jede Schicht betroffen. In jedem Dorf, in jedem Werk, in jeder Familie gab es Verwandte oder Bekannte der Verfolgten.
35. Die beste Zeit meines Lebens waren die Monate im Butyrka-Gefängnis, wo ich den Schwachen Mut machen konnte und wo alle freizügig miteinander sprachen.
36. Ich habe gelernt, einen Tag im Voraus zu „planen“, nicht mehr.
37. Ich habe begriffen, dass Diebe keine Menschen sind.
38. Dass im Lager keine Verbrecher einsitzen, sondern Leute wie du und ich, die man außerhalb der Gesetze festgenommen hat und nicht für deren Bruch.
39. Ich habe erlebt, was für schlimme Konsequenzen die Eitelkeit des Jungen, des Jugendlichen hat. Lieber stehlen als um etwas bitten. Prahlerei und dieses Gefühl befördern die Jungs ganz nach unten.
40. Frauen haben in meinem Leben keine große Rolle gespielt. Das Lager ist der Grund dafür.
41. Menschenkenntnis bringt nichts, denn ich kann mein Verhalten gegenüber jedem x-beliebigen Schuft nicht ändern.
42. Die Letzten in der Reihe werden von allen – den Begleitposten wie den Kameraden – gehasst: Zurückbleibende, Kranke, Schwache, alle jene, die im Frost nicht rennen können.
43. Ich habe gelernt, was Macht und was ein Mensch mit einem Gewehr bedeutet.
44. Dass sich die Maßstäbe verschieben und dass nichts typischer für das Lager ist.
45. Dass der Übergang aus dem Zustand des Häftlings in den Zustand des Freigelassenen sehr schwierig und ohne langwierige Abnutzung fast unmöglich ist.
46. Dass der Schriftsteller ein Ausländer sein muss, um die Dinge zu beschreiben. Wenn er den Stoff gut kennt, dann wird er so schreiben, dass ihn kaum jemand versteht.
Übersetzt von Tino Künzel
https://shalamov.ru/library/29/
Zur Person: Warlam Schalamow
1907 in Wologda als Sohn eines Priesters geboren, zog es Warlam Schalamow schon mit 17 Jahren nach Moskau. Wegen oppositioneller Aktivitäten wurde er 1929 als „sozial gefährliches Element“ zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt, die er im Nordural verbüßte. 1937 folgte eine weitere Verurteilung wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“. Schalamow kam in die berüchtigte Kolyma-Region, wurde erst 1951 freigelassen, musste aber noch bis 1953 bleiben. Seine Erzählungen über den Gulag konnten in der Sowjetunion erst nach seinem Tode 1982 veröffentlicht werden.