Gemeinsam helfen: Russlanddeutsche in Pflegeausbildung

Mit steigender Lebenserwartung wächst die Notwendigkeit der Pflege und Betreuung von Senioren in Deutschland wie Russland. Private Initiativen wie das Bayreuther Unternehmen SeniVita geben den Weg vor.

SeniVita
Not am Mann: Die Schülerinnen Jermakowa, Sakirowa und Kiseljowa proben den Ernstfall. (Foto: SeniVita)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2020 zum „Internationalen Jahr der Pflegekräfte und Hebammen“ erklärt – aus gegebenen Anlässen: Zum einen der 200. Geburtstag der Britin Florence Nightingale, einer Krankenschwester, die als Begründerin moderner Pflege und Reformerin des allgemeinen Gesundheitswesens gilt. Zum anderen der prekäre Notstand an professionell ausgebildeten Pflegekräften allerorten, der insbesondere in Hinblick auf die ständig steigende Lebenserwartung der Weltbevölkerung einen entsprechend hohen Stellenwert erlangt hat.

Horst Wiesent in Bayreuth braucht diesen aktuellen globalgesellschaftlichen Ansporn nicht, er lebt ihn: Vor 54 Jahren in eine Arbeiterfamilie aus Eschenbach in der Oberpfalz geboren, schaffte sein Abitur am Abendgymnasium, studierte Verwaltungs- und Gesundheitswissenschaften bis zum Doktorgrad, wurde Beamter bei der Bundesanstalt für Arbeit und schliesslich Vorstandsvorsitzender eines Stadtkrankenhauses. Als erkennbar humanistisch geprägter Visionär trieb es ihn vor 22 Jahren dann zur Selbständigkeit, zur Gründung des gemeinnützigen Unternehmens SeniVita.

Der Blick geht nach vorne

Seine Mission entlehnt er gern der Forderung des französischen Chirurgen und Nobelpreisträgers von 1912, Alexis Carrel: „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu geben.“ Heilfürsorge, Behindertenhilfe, Selbstbestimmung, Inklusion, verwirklicht er in inzwischen 10 SeniVita-Wohn- und Pflegeeinrichtungen, alle in gesellschaftlicher Mitte „am Marktplatz“ angesiedelt. Sechs weitere Häuser sind in Bau oder Planung. An die 700 Mitarbeiter helfen ihm inzwischen dabei.

Horst Wiesent verwirklicht mit SeniVita die eigene Vision. (Foto: SeniVita)

Die Ausbildung der dafür nötigen Fachkräfte liegt idealerweise schon seit dem Jahr 2000 in den bewährten Händen der Dr.-Wiesent-Schulen der SeniVita-Gruppe. Nun hat die staatlich anerkannte Berufsfachschule für Altenpflege St.Nikolaus im fränkischen Eggolsheim im Mai letzten Jahres auch ein Kooperationsabkommen mit dem Bildungsinstitut der deutschen Minderheit in Russland (BiZ) in Moskau abgeschlossen. Anfang Dezember wurde ein einwöchiges Seminar für Sozialfürsorge in Eggolsheim durchgeführt, an dem 16 aus Russland angereiste russlanddeutsche Männer und Frauen erfolgreich teilgenommen haben.

Ausbildung in familiärer Atmosphäre

Inzwischen sind unter den derzeit 38 Studierenden bereits vier junge Russinnen mitten in der dreijährigen Ausbildung: Julia Jermakowa, 41, aus Kaliningrad, Alija Sakirowa, 25, aus Ufa, Irina Durynina, 47, und Jelena Kiseljowa, 23, aus Moskau. Neben der fachlichen Ausbildung liegt ein Schwerpunkt für sie im weiteren Deutschlernen, was durch ihr Leben in einer Wohngemeinschaft mit elf deutschen und internationalen Mitschülern nahe der Schule in kleinstädtischer Umgebung vereinfacht wird. Sie loben die familiäre Atmosphäre im gesamten Schulbetrieb, das Engagement und die persönliche Fürsorge der 10 Lehrkräfte.

Drei Jahre lang werden sie hier in Alten-, Kinder- und Krankenpflege mit einer bewährten Kombination aus Theorie und Praxis intensiv geschult. Dafür gibt es ab dem ersten Ausbildungsjahr sogar eine ausreichende Vergütung in Anlehnung an die Tarife im öffentlichen Dienst. Als examinierter Altenpfleger bieten sich attraktive Berufseinstiegs- und Aufstiegschancen, bis hin zu der Möglichkeit eines weiterführenden, medizinischen Universitätsstudiums. Die Planung für Dr.-Wiesent-Lehrstätten vor Ort in Russland ist angedacht und wird weiter konkretisiert.

Eine globale Entwicklung

Im Jahr 2050 werden erstmals auf der Erde mehr Senioren (ab 60) als Kinder (unter 15) leben. Das sagt der Global AgeWatch Index, aufgelegt von der Hilfsorganisation Helpage International und dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), beruhend auf Bevölkerungsstatistiken sowie Daten von der WHO und der Weltbank. Schon seit Langem warnen Wissenschaftler vor einer wachsenden Überalterung der Gesellschaft, die vor allem westlichen Ländern droht. Und nicht nur denen: Das Forschungsergebnis zeigt, dass ebenso Entwicklungs- und Schwellenländer – wie auch Russland – mit einer rasanten Alterung der Bevölkerung rechnen müssen. Die weltweiten Mittelwerte liegen schon heute bei 68 Jahren (Männer) beziehungsweise 72 Jahren (Frauen). Geschuldet einer ganzen Reihe von entscheidenden Einflussfaktoren wie verbesserter Gesundheitsvorsorge, Umwelthygiene, Bildung und Arbeitsbedingungen, aber auch kontinuierlichem Geburtenrückgang aufgrund sich verändernder Lebensentwürfe.

Mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 78,5 Jahren für Männer und 83,3 Jahren für Frauen sind bereits heute 21 Prozent (17,5 Millionen von rund 83 Millionen) der Bürger in Deutschland über 65 Jahre alt. Um 2050 sollen 13 Prozent (9,9 Millionen) schon mindestens 80 Jahre alt und 4,5 Millionen Menschen pflegebedürftig sein. In Russland werden für 2030 unter den 139 Millionen Einwohnern 12,9 Prozent über 65 prognostiziert – mit, wie in Deutschland, kontinuierlich steigender Tendenz aufgrund weiter zunehmender Lebenserwartung.

Überalterung: Mehr als ein Stichwort

Kaum ein Thema erscheint so vergleichbar relevant, wie die Frage der demografischen Entwicklung in Deutschland und Russland, sagt Walter Kaufmann, Leiter der Abteilung Ost-, Südosteuropa und Kaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Überalterung werde meist nur als ein Stichwort wahrgenommen, stelle die Politik in beiden Ländern tatsächlich jedoch vor große Herausforderungen. Denn das Bewusstsein und die Familienressourcen zur Betreuung der oft pflegebedürftigen älteren Generation schwinden immer mehr in beiden Gesellschaften.

Horst Wiesent steuert dagegen, ein rühriger Pioniergeist mit stetig neuen Ideen für die Sicherung eines lebenslang lebenswerten Daseins seiner Mitmenschen. Wo auch immer: Neben Russland sind auch bereits Beziehungen zu China und Nordkorea geknüpft. Jedweder Gewinn wird reinvestiert. Der Mann hat etwas Pastorales. Und das liegt nicht nur an seiner bevorzugten Kleidung – schwarzes Sakko mit Stehkragen, schlichtes weißes Oberhemd. Sein hehres Motto: „Das Herz muss Hände haben, die Hände ein Herz.“ Die Perlen der Richtschnur für sein soziales Engagement sprudeln nur so aus ihm heraus: „Gefühl, Respekt, Fürsorge, Wertschätzung, Dankbarkeit, Vertrauen, Empathie.“

Frank Ebbecke

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: