Andrej ist ein braver sowjetischer Achtklässler, der seine Freizeit nicht auf der Straße verbringt, sondern in der Musikschule. Er wächst Ende der 1980er Jahre in behüteten Verhältnissen auf. Doch irgendwann hat es der 14-Jährige satt, von Gleichaltrigen herumkommandiert zu werden, weil er keiner Clique angehört. Mit rotem Halstuch und Wintermantel Marke Mamas Liebling ist er ein „Tschuschpan“, ein Außenseiter. In einem Land, dessen alte Ordnung zunehmend implodiert, füllen informelle Gruppierungen das Vakuum an Halt und Schutz. Andrej schließt sich einer dieser Jugendbanden an, die ganze Viertel kontrollieren und dort ihre eigenen Regeln aufstellen. „Jetzt bist du einer von uns und alle anderen sind deine Feinde“, verklickert ihm sein neuer bester Freund Marat. Doch der Preis, den nicht nur sie beide zu zahlen haben, ist hoch.
Erfolgsregisseur Schora Kryschownikow hat mit „Slowo pazana“ (übersetzt etwa „Ehrenwort unter Jungs“) für eine der besten oder zumindest meistdiskutierten Serien des Jahres in Russland gesorgt. Bei der Online-Filmdatenbank Kinopoisk erreicht das mit staatlichen Mitteln gedrehte Sozialdrama, seit Anfang November auf den Streaming-Plattformen Start und Wink zu sehen, ein Rating von 9.0 (auf einer Skala bis 10) – ein Spitzenwert. Das ist vergleichbar mit „Game of Thrones“.
Der wahre Hintergrund
Die riesige Resonanz rührt auch daher, dass die Handlung nicht etwa frei erfunden ist, sondern auf einer wahren Geschichte basiert. In Kasan, der 700 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Hauptstadt von Tatarstan, trieben in der späten Sowjetunion konkurrierende Jugendbanden ihr Unwesen. Die Wurzeln dieser Bandenkriminalität reichten bis in die Breschnew-Zeit zurück. Während der Perestroika unter Michail Gorbatschow geriet dann vieles in Bewegung, was vorher unverrückbar schien. „Leute, euch muss klar sein, dass jetzt alles ganz anders wird“, sagt in der Serie eine der Anführer namens Wowa Adidas. Er ist gerade aus dem Afghanistan-Krieg heimgekehrt und eine Autorität für seine Mannen. „In einem Jahr“, meint er im Brustton der Überzeugung, „bekommen wir hier Amerika oder etwas noch Besseres.“
Statt Amerika bekam Kasan die „jugendliche Pest“, wie die Zeitungen das damals nannten. Der Journalist Robert Garajew hat das sogenannte „Kasaner Phänomen“ in seinem vor drei Jahren erschienenen Buch „Slowo pazana. Das kriminelle Tatarstan von den 1970er bis 2010er Jahren“ beschrieben und nun auch die Macher der gleichnamigen Serie beraten.
Unerschrocken ins Verderben
Kryschownikow zeigt ein Milieu, das längst nicht etwa von hirn- und gefühllosen Schlägern bevölkert wird, sondern von halben Kindern, die ganz schön albern, naiv und charmant sein können, gerade die erste Liebe durchleben, im Kulturhaus tanzen gehen und sich liebevoll um ihre Geschwister kümmern. Sie legen ihre eigene moralische Messlatte an das Verhalten von Freund und Feind, hantieren pausenlos mit Begriffen wie Ehre und Gerechtigkeit und marschieren unerschrocken ins Verderben. Hauptsache keine Schwäche zeigen und sich nichts gefallen lassen, Hauptsache nicht von der Gruppe verstoßen werden. Ohne es zu merken, geraten die „Pazany“ immer tiefer in einen Kreislauf aus maßloser und teils tödlicher Gewalt, die letztlich völlig sinnlos ist. Um ein Stück Boden, buchstäblich den Asphalt zu beherrschen und zu verteidigen, geht man bis zum Äußersten und sogar über Leichen.
Andrej wird grün und blau geschlagen, als er in die Bande „Universam“ aufgenommen zu werden versucht. Immerhin er läuft nicht davon und verdient sich so den Respekt der anderen. Demoliert, aber happy kommt er nach Hause und nimmt seine fassungslose Mutter in den Arm. Nun werde alles gut, flüstert er ihr lächelnd ins Ohr. Aber nichts wird gut. Aus einer beinahe spielerischen Suche nach Orientierung, nach Idealen und einem Platz für sich selbst wird oft genug bitterer Ernst.
Taten hätten Konsequenzen, formulierte Kryschownikow im Interview mit Kinopoisk die Message der Serie: „Verbrechen bleiben nicht ungesühnt. Ich meine nicht den strafrechtlichen Aspekt, wir haben ja keinen Krimi gedreht, sondern den allgemein-menschlichen. Wenn du Unheil angerichtet hast, dann kehrt es sich irgendwann gegen dich – vervielfacht, blutig, dein persönliches Unheil.“
Viel Kritikerlob
Das Echo auf „Slowo pazana“ fiel geteilt aus, wobei speziell die Filmkritiker nicht mit Lob sparten. Im „Kommersant“ nennt Wassili Stepanow die Serie „unsere Gangs of New York“. Sie wirke „äußerst authentisch“ und sei „sehr zeitgemäß“. Gewalt werde hier keineswegs in einem positiven Licht dargestellt. Das „Rad der Brutalität“ erfasse eine handelnde Person nach der anderen, vom „Strudel des Bösen“ würden Schuldige und Unschuldige gleichermaßen fortgerissen.
Bei RBK schreibt der Filmkritiker Timur Alijew: „Für die Hauptfiguren der Serie gibt es kein Happy End. Von dem Moment an, in dem sie den kriminellen Weg eingeschlagen haben, sind sie dazu verdammt, sich entweder vor dem Gesetz verantworten zu müssen oder bis zum Lebensende vor ihrem Gewissen.“ Die Serie vermittle eine ausgezeichnete Vorstellung von einer „verlorenen Generation, die, verstört und verwirrt, am Schnittpunkt zweier Staaten etwas Neues und Unbekanntes ausprobiert“. Gemeint ist der Übergang von der Sowjetunion zum postsowjetischen Russland.
Seltener gesellschaftskritischer Stoff
Dabei ist „Slowo pazana“ mit Respekt und Sympathie für fast alle Seiten gemacht, seien es nun die um Anerkennung ringenden Jugendlichen, ihre überforderten Eltern oder auch die Polizeibeamten, die sich mehr oder weniger aufrichtig bemühen, die Motive der handelnden Personen zu verstehen, ohne dass es ihnen gelingt. Die Serie fällt gleich in mehrerer Hinsicht aus dem Rahmen. Zum einen verortet sie die Krise der Werte nicht erst in den „wilden“ 1990er Jahren, wie allgemein üblich, sondern bereits in der Sowjetunion. Zum anderen sind gesellschaftskritische Stoffe wie dieser – wenn schon nicht über die Gegenwart, so zumindest über die Vergangenheit – rar geworden. Film und Fernsehen werden dominiert von Produktionen, die den Zuschauer stolz machen sollen auf sein Land. Vor diesem Hintergrund nimmt sich „Slowo pazana“ aus wie eine Bildstörung. Statt eines klaren pädagogischen Auftrags wird es dem Zuschauer weitgehend selbst überlassen, seine Schlüsse zu ziehen.
Dass eine Gegenkultur, eine Parallelwelt jenseits des Systems in den Mittelpunkt gerückt wird, hat zwar den Nerv des Publikums getroffen, aber eine deutliche Abwehrreaktion des politischen Establishments hervorgerufen. In Tatarstan waren bereits die Dreharbeiten zu der Serie behindert worden. Sie mussten letztlich in Jaroslawl statt in Kasan stattfinden. Nun fühlten sich führende Vertreter Tatarstans offenbar in ihren Befürchtungen bestätigt.
Gegen die „traditionellen Werte“
Republik-Chef Rustam Minnichanow sagte auf einer Sitzung: „In letzter Zeit kommen Filme heraus, die einen Abschnitt unserer Geschichte romantisieren, der mit jugendlichen Gruppierungen verbunden ist. Wir haben das erwartet. Leider führt das zu nichts Gutem.“ Man müsse, so Minnichanow, die Führung Russlands wissen lassen, „dass solche Filme der Politik widersprechen, die wir verfolgen“.
Trotz der Altersmarkierung 18+ sieht die Kinderrechtsbeauftragte von Tatarstan, Irina Wolynez, in der Serie eine Gefahr für Minderjährige. Sie schade der „geistigen und moralischen Gesundheit der Jugend“, idealisiere kriminelle Gruppen und widerspreche dem Präsidentenerlass Nummer 809 über die Bewahrung und Stärkung traditioneller russischer geistig-moralischer Werte, schreibt sie an die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor. Wolynez beantragte, „Slowo pazana“ zu überprüfen – und zu verbieten.
Ebenfalls ein Verbot fordert Nina Ostanina, Abgeordnete der Kommunisten-Fraktion in der Staatsduma. Die Vorsitzende des Komitees zum Schutz der Familie und für Fragen von Vaterschaft, Mutterschaft und Kindheit schaltete sowohl Roskomnadsor als auch die Ermittlungsbehörde ein.
Scheinbar in Reaktion auf die Kritik wird seit der fünften Folge von „Slowo pazana“ im Abspann auf einen staatlichen Hilfsdienst verwiesen. Dorthin können sich Eltern in Notsituationen bei der Erziehung wenden.
Warnendes Beispiel
Als Beispiel dafür, dass die Serie bereits eine destruktive Wirkung auf Heranwachsende entfaltet und Nachahmer gefunden hat, musste aus Sicht der Obrigkeit ein Vorfall in einem Landkreis von Tatarstan herhalten. Dort hatten Kinder ihren Schulhof virtuell in Bandenreviere aufgeteilt und eine Schlägerei nachgestellt. Die bestand hauptsächlich darin, dass sie sich mit Schneebällen bewarfen. Ein Video davon macht einen relativ harmlosen Eindruck. Dennoch beschäftigte die Episode sogar höchste Kreise. Minnichanow teilte mit, man habe die Teilnehmer ermittelt und „prophylaktische Maßnahmen“ ergriffen, damit sich so etwas nicht wiederhole.
Um das Kindeswohl sorgt sich auch Nikolai Atlassow, kommunistischer Abgeordneter im Parlament von Tatarstan. Dem hatte Minnichanow aufgetragen „zu reagieren“. In einem Gastbeitrag für die Internetzeitung KazanFirst schreibt er, „solche Filmstoffe“ könnten in „erheblichem Maße“ die erzieherische Arbeit und Jugendpolitik in Russland konterkarieren. Erneut stelle sich die Frage nach einer Zensur. Und, so Atlassow wörtlich, vielleicht sollten „die Erstellung und Vorführung solcher Filme, Theaterstücke und anderer künstlerischer Produktionen“, die kriminelle Handlungen „propagierten“, generell gesetzgeberisch verboten werden. Schließlich sei in Russland ja auch „LGBT-Propaganda*“ verboten.
„Kolossale Dummheit“
Gegen die Serie sprach sich außerdem Atlassows Parlamentskollegin Ljudmila Rybakowa von der Regierungspartei „Einiges Russland“. Sie sagte dem Online-Portal „Podjom“, man müsse die Jugend am „positiven Beispiel“ erziehen. „Unser Land ist einzigartig, mit seinem reichen historisch-kulturellen Erbe, herausragenden Errungenschaften, grandiosen Projekten, geschichtlichen Ereignissen, Helden.“ Genau das sei es, was es zu demonstrieren und popularisieren gelte, und nicht Probleme.
Das alles hört sich rhetorisch stark nach jener Zeit an, in der auch die Serie spielt. Der sprang zuletzt immerhin Nikita Michalkow zur Seite. Der bekannte Regisseur, Produzent und Unterstützer von Wladimir Putin bezeichnete bei einer Pressekonferenz Aufrufe zu einem Verbot als „kolossale Dummheit“. Die Serie nannte er „sehr stark“. Und wenn, so Michalkow weiter, „Ihre Kinder“ sich ein Beispiel nähmen an den Filmhelden, „dann bedeutet das, dass Sie Scheiß-Eltern sind“.
Tino Künzel
* Ein Gesetz, das „Propaganda nicht traditioneller sexueller Beziehungen oder Vorlieben, von Pädophilie und Geschlechtsumwandlungen“ verbietet, trat in Russland am 5. Dezember 2022 in Kraft. Bis dahin war „LGBT-Propaganda“ unter Minderjährigen untersagt (seit 2013). Ende November urteilte der Oberste Gerichtshof Russlands, die „internationale LGBT-Bewegung“ sei „extremistisch“ und verbot sie auf russischem Boden.