Als Deutscher unter „slawischen Preußen“

Von Belarus weiß man in Deutschland wenig, was über die Nachrichtenlage hinausginge, und in Russland auch nicht viel mehr. Wie also die aktuellen Ereignisse einordnen? Die MDZ hat zu Land und Leuten den Deutschen Daniel Krutzinna (45) befragt. Der Unternehmens- und Regierungsberater arbeitet und lebt seit 2007 in Belarus.

Hier zeigt sich Minsk von seiner süßen Seite. (Viktor Tolotschko / RIA Novosti)

Herr Krutzinna, wie wohl fühlen Sie sich in Belarus?

Ich halte mich aus verschiedenen Gründen gerade in Deutschland auf. Aber insgesamt fühle ich mich schon eher in Belarus zu Hause. Ich habe eine schöne Wohnung am Siegesplatz direkt im Zentrum von Minsk, das ja eine attraktive Stadt mit einer super Lebensqualität ist. Nicht so teuer wie Moskau, aber mit einem breiten Angebot an Kultur und Gastronomie. Sehr ordentlich und sicher. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört und danach so wiederaufgebaut, wie man sich das im Stalinismus vorstellte: mit breiten Prachtstraßen und großen Parks.

Ich bin aber auch schon immer gern durchs Land gefahren, habe viele Freunde in den Regionen. Das war bisher ein klasse Leben. Wie es nun weitergeht, muss man mal abwarten. Auch bei Investoren ist das Land nicht mehr sonderlich angesagt. Schon die letzten Jahre waren in dieser Beziehung schwierig.

Wie kommt das denn? In der jüngeren Vergangenheit war die Berichterstattung über Belarus ja längst nicht so negativ wie früher. Präsident Lukaschenko durfte sogar Gastgeber für die Verhandlungen über den Donbass sein.

Das stimmt. Aber wirtschaftlich ging es bergab. Ende der 2000er und Anfang der 2010er Jahre hatte Belarus sehr gute Wachstumsraten, ermöglicht durch indirekte russische Subventionen, die im Verkauf von Öl und Gas zu Inlandspreisen bestanden. Doch dieses „Wirtschaftswunder“ ist seit vier, fünf Jahren vorb­ei.

Bela­rus leidet unter dem niedrigen Ölpreis. Die beiden Raffinerien und die petrochemische Industrie machen 25 Prozent des Bruttosozialprodukts und 50 Prozent der Exporte aus. Und dann hat Russland seine Subventionen konsequent zurückgefahren beziehungsweise sie von politischen oder auch wirtschaftlichen Zugeständnissen abhängig gemacht. Die Botschaft lautet: Wir finanzieren euren Sozialismus nur weiter, wenn ihr auf Integrationskurs geht. Die Proteste jetzt sind auch deshalb auf so fruchtbaren Boden gefallen, weil die Reallöhne seit zehn Jahren nicht mehr steigen und das Land in eine Stagnation geglitten ist.

Was lässt sich zum Lebensstandard der Bevölkerung sagen?

Eines der größten Vorurteile über Belarus ist das von der armen Diktatur, in der die Menschen nur darben. So ist es nicht.

Im Vergleich zur Ukraine geht es der Durchschnittsbevölkerung eindeutig besser. Im Vergleich zu Russland gibt es keine Oligarchen. Im Vergleich zum Baltikum ist seit Wendezeiten nicht ein Drittel nach Westen abgewandert. Gut, Polen ist von den unmittelbaren Nachbarn vielleicht noch das positivste Beispiel. Aber Polen hatte auch 15 Jahre Massenarbeitslosigkeit, bevor man die wirtschaftliche Transformation geschafft hat.


Zur Person: Daniel Krutzinna

Wuchs in Hessen in einem landwirtschaftlich geprägten Milieu nahe der Grenze zur DDR auf. Die Großeltern waren im Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen geflüchtet. Studierte nach der Wende in Potsdam und leistete seinen Zivildienst Mitte der 1990er Jahre bei Memorial in St. Petersburg. Wirkte in Belarus an einem Regierungsberatungsprojekt zur Verbesserung des Investitionsklimas mit und baute zusammen mit einheimischen Partnern die erste Investmentbank des Landes auf. Saß fünf Jahre im Aufsichtsrat der belarussischen Entwicklungsbank. Ist heute in Minsk bei einer Unternehmensberatung tätig, darüber hinaus an einem Landhotel und einer Reiseagentur beteiligt.   


Wenn Sie in den Regionen unterwegs sind, welchen Eindruck machen die Städte und Dörfer in der Provinz dann auf Sie?

Die Infrastruktur ist sehr gut und eigentlich mit Polen zu vergleichen, das ja massiv Hilfen von der EU bekommt. Aus Russland höre ich manchmal von Freunden: Wenn man aus Moskau rausfährt, dann fängt hinter der Ringautobahn Somalia an. In Belarus hat man durchaus das Gefühl, sich in einem gut gemanagten Land zu befinden, das gerade im ländlichen Raum viel mehr Potenzial hat als Russland oder die Ukraine. Nur müssten eben bestimmte Dinge im Wirtschaftssystem justiert werden, was beispielsweise die Förderung des privaten Mittelstands betrifft.

Gerade die Regionen haben zuletzt die Wirtschaftskrise zu spüren bekommen. Während in Minsk als Leuchtturm des Landes auch die stark wachsende IT-Indus­trie viel aufgefangen hat und der Lebensstandard dort vielleicht noch gestiegen ist, ist er auf dem Land gesunken. In dem Maße, in dem die finanzielle Rückendeckung von Russland zurückgeht, fehlen auch dem Staat die Mittel, die Regionen durchzufüttern.

Apropos „Somalia“ …

… ja, auch Russland tut mittlerweile viel dafür, dass die Regionen nachziehen, ich weiß. Beispielsweise durch die regionalen Industrieparks, die vielen Förderinstrumente. Auch bei der Lokalisierung stehen die Regionen im Vordergrund. Internationale Investoren sollen mehr Wertschöpfung ins Land bringen – und nicht nur nach Moskau.

In Belarus ist die Situation anders. Hier hat es in den 1990er Jahren nicht diesen Zusammenbruch gegeben. Staatsbetriebe, Kolchosen – das hat immer funktioniert. Aber der Vektor geht in eine andere Richtung. Während in Russland nun endlich die Regionen so langsam über den Berg zu sein scheinen, verschlechtert sich die Lage in Belarus.

Die Abhängigkeit von Russland ist so groß, dass damit vieles steht und fällt?

Es ist sogar eine doppelte Abhängigkeit. Lukaschenko hat es in seiner Amtszeit geschafft, dass Belarus mit ungefähr 100 Milliarden US-Dollar Subventionen aus Russland subventioniert wurde. Das sind pro Jahr also ca. 10 bis 15 Prozent des Bruttosozialprodukts. Darüber hinaus ist Russland auch ein unheimlich wichtiger Absatzmarkt, für die meisten Industriezweige der wichtigste. Die petrochemischen Produkte gehen in den Westen, aber dafür braucht man die russischen Rohstofflieferungen. Belarus selbst hat bis auf Kalidünger keine signifikanten eigenen Rohstoffe.

Wo besteht aus Ihrer Sicht der größte Reformbedarf?

Viele Unternehmen sind es nicht gewöhnt, Geld zu verdienen. Es muss ja per se nichts Schlechtes sein, wenn ein Betrieb in Staatshand ist, solange er nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt wird. Doch da liegt in Belarus noch vieles im Argen. Die Unternehmen verlassen sich auf Zuwendungen aus dem Staatshaushalt, auf Staatsaufträge, auf einen administrativen Zugang zum russischen Markt. Große Teile der Bevölkerung wiederum sind lange davon ausgegangen, dass der Staat in der einen oder anderen Form für sie sorgt. Das Unternehmertum ist bislang stark unterentwickelt. Es gibt eine extreme Abhängigkeit vom Staat und davon, wie viel Geld er zur Verfügung stellen kann.

Was bedeutet das für die nähere Zukunft?

Es stehen sehr schwierige wirtschaftspolitische Entscheidungen an, die auch zu gesellschaftlichen Umbrüchen führen werden. Das wird in jedem Falle ein steiniger Weg, ob nun mit oder ohne Lukaschenko. Selbst wenn er geht, ist in keinem Fall zu erwarten, dass morgen alles besser wird. Und wenn ein Nachfolger den Reformstau der letzten 10 bis 15 Jahre ausbaden muss, dann ist die Frage, für wen das Volk dann bei den nächsten Wahlen stimmt.

Lukaschenko ist seit 26 Jahren im Amt. Wie lange hatte er nach Ihrer Einschätzung in dieser Zeit die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich?

Fest steht, dass er 1994 auf absolut demokratischem Wege an die Macht gekommen ist. Alle Wahlen danach waren nicht transparent und fair. Deshalb ist es schwer zu sagen, ob er 2010, als es ebenfalls Protest gab, in freien Wahlen noch gewonnen hätte. Aber man muss auch bedenken, dass die öffentliche Meinung vor zehn Jahren noch im Wesentlichen vom Staatsfernsehen geprägt wurde. Das ist heute mit Social Media ganz anders. Jeder hat die Möglichkeit, sich alternativ zu informieren, das Meinungsmonopol des Staates ist gebrochen. Und heute hat Lukaschenko die Unterstützung im Volk größtenteils verloren.

Können Sie nachvollziehen, warum Menschen für ihn stimmen?

Auf jeden Fall. Lukaschenko wird gewählt, weil er es in den 1990er Jahren geschafft hat, das Land vor Kriminalität, Oligarchentum und Zerfall zu bewahren. Deshalb hält man ihm teilweise bis heute die Stange, auch wenn er zuletzt auch aus seiner Stammwählerschaft viele verprellt hat.

Außerdem stimmen jene für Lukaschenko, die unmittelbar von seinem Verteilungssystem profitieren, von den Sicherheitskräften über die Direktoren der Staatsbetriebe bis hinunter zu den Kolchosevorsitzenden, die Land Cruiser und Lexus fahren und nicht von ihrem offiziellen Gehalt leben. Das ist eine relativ breite Kaste, das sollte man nicht unterschätzen. Das Bild „Lukaschenko gegen alle“ stimmt so nicht. Und natürlich hat er auch Anhänger unter denen, die Angst vor Wandel haben und vor der Ungewissheit, was nach ihm kommt.

Im Moment schaut die Welt aber vor allem gebannt auf jene Hunderttausende, die gegen Lukaschenko protestieren. Wie erleben Sie die Belarussen im Alltag?

Ich hatte vorher schon ein Beratungsgeschäft in Russland, in Nischnij Nowgorod. Meine Erwartung war, dass Belarus sich ähnlich anfühlen würde wie eine russische Region. Aber da musste ich mich schnell revidieren.

Die Belarussen haben schon eine andere Mentalität als die Russen. Für mich sind sie so etwas wie die slawischen Preußen. Sehr regel- und ordnungsbewusst, sehr verlässlich. Ich bin in all den Jahren nie über den Tisch gezogen worden. Meine Kunden haben immer ihr Wort gehalten.

Die Belarussen sind auch reservierter als die Russen, von denen man ja schnell mal nach Hause oder in die Banja eingeladen wird, wenn sie einen mögen, und die sehr überschwänglich sein können in ihrem Temperament. Da steckt bei den Belarussen, würde ich sagen, noch ein Stück baltischer oder skandinavischer Kulturkreis mit drin. Auf jeden Fall sind sie kein konfrontatives Volk und auch in schwieriger Lage darauf bedacht, ein bisschen Stabilität zu wahren.

Belarus wird oft als eine Art Anhängsel von Russland verstanden. Aber wenn man die Leute fragt, in welche Richtung sich ihr Land entwickeln soll, dann zeigen Umfragen, dass 20 Prozent prowestlich sind und 20 Prozent prorussisch, die große Mehrheit jedoch dafür ist, dass Belarus seinen eigenen Weg geht. Die jetzige Protestbewegung ist auch ein Signal, dass die Menschen selbst entscheiden wollen, wer sie eigentlich sind und wohin sie sich orientieren möchten.

Touristisch ist Belarus ein relativ unbeschriebenes Blatt und Reisen wegen Corona momentan ohnehin nicht so einfach. Welche Tipps können Sie denen geben, die das Land dennoch besuchen möchten?

Belarus hat nicht so viele traditionelle Sehenswürdigkeiten und Touristenmagnete. Es hat keine Berge und keinen Zugang zum Meer, ist aber reich an Wäldern, Seen und Sümpfen. So befindet sich das größte zusammenhängende Hochmoor Europas in Belarus. Wahnsinnig schöne Ecken sind zum Beispiel die Braslawer Seen im Norden, der Pripjat-Fluss im Süden und der Belowescher Nationalpark im Westen. Weiter gibt es viele Zeugnisse der dramatischen Geschichte des Landes, das immer wieder von Westen oder Osten überrannt wurde. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war von der heutigen Landesfläche eine Hälfte sowjetisch und eine polnisch. Bis heute sind ein Viertel der Bevölkerung Katholiken und zehn Prozent polnische Minderheit.

Natürlich sollte man sich Minsk anschauen, aber auch in den Regionen gewesen sein. Ich würde auf jeden Fall empfehlen, mal eine Führung in einem Staatsbetrieb zu machen und sich generell dafür zu interessieren, wie dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell funktioniert.

Das Interview führte Tino Künzel.

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