Ich stehe mitten im Moskauer Flughafen Domodedowo. Anfang August ist Reisezeit, Menschen aller Kulturen und Nationen kreisen um mich rum. Ich nehme nichts davon wahr – mein Kopf lässt nur einen Gedanken zu: In wenigen Minuten werde ich meinen russischen Vater wiedersehen. Zum ersten Mal seit 20 Jahren.
Vor 20 Jahren haben wir noch zusammen Russland verlassen. Sommer 1996 in Nowosibirsk: Meine jüngere Schwester ist da bereits schwer krank. Ihr Gesicht aufgequollen. Die dünnen Beinchen laufen nicht mehr. Tumore haben ihr Gehirn fast gänzlich zerfressen. Ärzte in Russland sehen keine Hoffnung für das kranke Kind. Sie sagen, Medikamente würden für andere Patienten benötigt, eine Behandlung wäre aufgrund der geringen Heilungschance nicht sinnvoll und wegen der hohen Kosten nicht tragbar. Sie wollten die Therapie einstellen. Unser letzter Lichtblick: Deutschland.
Als fünfjähriges Mädchen brach ich also mit meiner Familie in das knapp 5000 km entfernte Bayern auf. Ich erinnere mich noch vage, wie meine Mama mir und meinen Geschwistern sagte, wir würden unsere in Passau lebende Großmutter besuchen und sollten lediglich das Nötigste in unsere Koffer packen. Dass ich mich an diesem Tag zum letzten Mal in der sibirischen Metropole befinden würde, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen können. Plötzlich ging alles ganz schnell: das Taxi zum Flughafen, das ewige Warten im Flieger und schließlich die Ankunft in einem Land, dessen Sprache ich zu jener Zeit nicht mächtig war.
An die ersten Wochen kann ich mich noch gut erinnern. Wir verbrachten viel Zeit gemeinsam als Familie, machten Entdeckungstouren, versuchten uns an der deutschen Aussprache und der bayrischen Kost. Dass mein Vater plötzlich alleine nach Nowosibirsk zurückging, kam für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Seit unserer letzten Begegnung in Passau ist viel passiert. Ich konnte in Bayern ein gutes Leben führen, hatte die Möglichkeit, viel zu reisen und in Wien zu studieren. Obwohl ich in Russland geboren bin, sind heute Bayern und Österreich meine Heimat. Ein Leben zwischen maroden Plattenbauten und Eiseskälte in Sibirien wäre für mich heute undenkbar.
Meinem Vater bin ich zwar viele Jahre nicht gegenübergestanden, trotzdem war er immer in meinem Kopf. Alle paar Monate hörte ich seine Stimme aus dem Telefon, ab und an kam ein Brief. Armut und die Gesundheit seiner Eltern erlaubten es ihm nicht, nach Deutschland zu kommen. Ebenso erging es meiner alleinerziehenden Mutter mit ihren drei Kindern. Da uns an allen Ecken und Enden Geld fehlte und für meine kranke Schwester der Flug belastend wäre, haben wir eine Russlandvisite niemals in Betracht gezogen.
Je älter ich wurde, desto mehr begann ich, mich wieder für meine ehemalige Heimat zu interessieren. Weil ich das Land mit eigenen Augen sehen wollte, beschloss ich, nach Russland zu reisen. Zur gleichen Zeit bekam ich eine Zusage für ein Praktikum bei der Moskauer Deutschen Zeitung, und somit stand meiner Entscheidung erst recht nichts mehr im Wege. Es folgte ein langes Skype-Telefonat mit meinem Vater. Er schien überaus aufgeregt und glücklich, mich nach all den Jahren wiederzusehen – so sehr, dass er seine Freude nicht wirklich in Worte fassen konnte. Ich hätte zwar nach Sibirien fliegen können, aber er bestand auf Moskau als Treffpunkt, da es für mich näher und günstiger ist. Der Flug nach Moskau dürfte ihn mehrere Monatsgehälter gekostet haben.
Am Flughafen in Moskau stand ich voller Sorge: Erkennen wir uns auf Anhieb? Was wird jetzt geschehen? Dann sah ich ihn lächelnd in der Empfangshalle stehen. Obwohl ich ihn mir viel größer vorgestellt hatte, erkannten wir uns sofort. Unsere Begegnung fühlte sich vollkommen vertraut an, als wären wir niemals getrennt gewesen.
Wir unterhielten uns bei einem langen Spaziergang an der Moskwa über vergangene Zeiten und schossen Fotos auf dem Roten Platz. Abends aßen wir gemeinsam Borschtsch und Pelmeni und blätterten dabei durch alte Fotoalben. Über die Trennung zu sprechen, fiel uns beiden nicht leicht. Ich überwand mich nicht, ihn nach dem Warum zu fragen, warum er uns damals verlassen hatte. Es war wichtig, dass die wenigen gemeinsamen Tagen schön würden.
Mein Vater verhielt sich so fürsorglich, wie ich ihn in Erinnerung behalten hatte. Er erzählte mir, dass er in meinem Alter auch Moskau besichtigt hatte und wie sich alles verändert hat. Wir blieben vor jeder Kirche und jedem Denkmal stehen, damit er eine Geschichte dazu erzählen konnte. Ab und an schimpfte mein Vater, wie arrogant die Moskauer und wie hoch die hiesigen Preise seien. Außerdem erklärte er mir, was ich während meines Aufenthalts beachten soll. Dass ich stets meine Tasche geschlossen halten müsse, das Leitungswasser nicht trinken dürfe und Alkohol in der Öffentlichkeit verboten ist. Obwohl er selbst nur wenig Geld besitzt, bestand er in Moskau darauf, immer für mich zu bezahlen. Er besorgte mir eine russische SIM-Karte, Hausschuhe und einen neuen Föhn. Mir sollte es an nichts fehlen.
Auch zum Abschied schenkte er mir gegen meinen Willen 200 Euro in bar und eine Kreditkarte mit 300 Euro Guthaben. Dass ich in meinem Wiener Minijob mehr verdiene als er, hat ihn nicht interessiert.
Bevor er wieder nach Nowosibirsk abreiste, setzten wir uns noch mal kurz zusammen und verabschiedeten uns unter Tränen. Da ich jetzt Russland besser kenne und keine Angst mehr vor diesem riesigen Land habe, werden wir uns nun sicherlich öfter sehen.
Jana Weber
Die 25-Jährige studiert in Wien Publizistik und ist zurzeit Praktikantin bei der MDZ.