Während in Deutschland über den Umgang mit Extremismus diskutiert wird, geht die russische Justiz hart gegen jegliche Form von Beleidigungen vor. Dies führt dazu, dass Menschen auch wegen scheinbar harmloser Äußerungen angeklagt werden.
So erging es dem 43-jährigen Eduard Nikitin aus St. Petersburg. Ihm wird vorgeworfen, gegenüber Abgeordneten extremistische Äußerungen getätigt zu haben. Die Anklage beruft sich auf einen etwas derb geratenen Witz über die Präsidentschaftswahlen und eine Karikatur, die er bereits 2015 auf seinem Vk.com-Profil, eine der beliebtesten Social-Media-Plattformen Russlands, geteilt hat.
Im Falle einer Verurteilung erwarten Nikitin bis zu fünf Jahre Gefängnis – falls er nicht aufgrund eines medizinischen Gutachtens in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Der arbeitslose Nikitin ist bei Weitem nicht allein. Schlagzeilen über ähnliche Fälle überfluten vor allem das Internet, das gleichzeitig Tatort der Vergehen ist.
Die Anklage beruht dabei in den meisten Fällen auf den Paragraphen 148 und 282 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation, wobei ersterer die Gefühle Gläubiger schützt und letzterer das Schüren von Hass und Feindschaft zu einem Verbrechen erklärt.
Die Zahl der Fälle ist rasant gestiegen
Nach Angaben des Informations- und Analysezentrums „Sowa“ wurden im Jahr 2017 weit über 600 Menschen in Russland wegen Extremismus, der Anstiftung zum Hass, der Verletzung von Gefühlen Gläubiger und ähnlicher Vergehen verurteilt. Das sind beinahe fünf Mal so viele wie noch im Jahr 2011. Ungefähr 90 Prozent der Äußerungen wurden im Internet getätigt.
Die Menschenrechtsgruppe „Agora“ bestätigt den Trend: Mit dem Beginn der dritten Amtsperiode von Präsident Putin 2012 und der Verabschiedung des Strafgesetzes über die Verletzung der Gefühle Gläubiger ein Jahr darauf ist sowohl die Zahl der Anklagen als auch der Schuldurteile in diesem Bereich stetig gestiegen. Das bekommt auch der russische Durchschnittsbürger zu spüren.
Die Netzgemeinde hilft sich gegenseitig
Satirische Karikaturen, Witze, Gedichte und sogar geteilte Inhalte, die nicht eigens verfasst wurden, können aus Spaß ganz schnell Ernst werden lassen. Ein falsch gesetztes „Gefällt mir“ genügt. Das löst in der Bevölkerung Unruhe aus. „In diesem Land bekommt man für ein ‚Like‘ sieben Jahre Gefängnis“, meint etwa ein Twitter-User.
Aktivisten haben auf dem Messenger Telegram einen Kanal eingerichtet, in dem sie neue und bereits angelaufene Verfahren dokumentieren. Andere verraten auf ihren Websites Tipps und Tricks, wie Nutzer schnellstmöglich eventuell anstößige Inhalte auf ihren Vk.com-Profilen loswerden können.
Auch der Regierung ist das Problem bekannt
Das Thema schlägt mittlerweile so hohe Wellen, dass man sich auch auf höheren Ebenen damit beschäftigt. Die Mail.ru Group, Eigentümerin von Vk.com, musste sich in letzter Zeit immer öfter gegen Vorwürfe bezüglich der geringen Sicherheitsvorkehrungen und gar der Weitergabe von Daten an Behörden wehren. Inzwischen hat sich das Unternehmen unter anderem an das Oberste Gericht der Russischen Föderation und an die Duma gewandt.
In einer auf ihrer Website veröffentlichten Pressemeldung verurteilt die Mail.ru Group die Reaktion der Rechtsschutzorgane häufig als „unbegründet hart“ und fordert Amnestie für unrechtmäßig nach Paragraph 282 des Strafgesetzbuchs Verurteilte und eine Entkriminalisierung zukünftiger Fälle. Das Unternehmen selbst hat kürzlich die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, indem es Nutzern nun die Möglichkeit gab, ihr Profil auf „privat“ zu stellen und dadurch gänzlich uneinsehbar für Fremde zu machen.
Der erste Lösungsversuch ist gescheitert
Ein Versuch, das Problem auf dem legislativen Weg zu beheben, scheiterte im Juni. Der von zwei Abgeordneten von Kommunistischer Partei und der nationalkonservativen Partei Rodina in der Duma vorgebrachte Gesetzesentwurf zur Abschwächung der Reichweite von Paragraph 282 im Internet konnte aufgrund von Formfehlern nicht verabschiedet werden.
Dennoch beschäftigt das Thema weiterhin die staatlichen Institutionen. Das Oberste Gericht der Russischen Föderation verfügte nun, dass russische Gerichte zukünftig immer zumindest den „Kontext“ solcher Fälle zu berücksichtigen haben, will heißen die persönlichen Umstände des Angeklagten und in welchem Umfang er womöglich extremistische Äußerungen getätigt hat und wen sie alles erreicht haben, Freundeskreis und Ähnliches.
Um die Instanzen zusätzlich zu entlasten, wurde außerdem in einer weiteren Resolution bestimmt, dass Verfahren noch während der Antragsstellung eingestellt werden können, wenn die Vorwürfe unbegründet sind. Der Vorsitzende des Obersten Gerichts Wjatscheslaw Lebedew begründet diesen Schritt mit der Beunruhigung, die der sprunghafte Anstieg der Verfahren, in denen es speziell nur um Extremismusvorwürfe in sozialen Netzwerken geht, im Gericht ausgelöst hat.
So seien die Fälle in ihrer Anzahl für ganz Russland zwar relativ gering, hätten aber dafür einen deutlichen Anstieg verzeichnet von etwas mehr als hundert zu über 500 innerhalb der letzten zwei Jahre.
Extremismus ist nicht genau definiert
Die Gründe dafür sind vielfältig. So ist der Begriff „Extremismus“ relativ frei auslegbar und bietet den Mitarbeitern der Exekutive einen breiten Spielraum für Verhaftungen. Sergej Pantschenko, Jurist des Moskauer Anwaltskollegiums „Fort“, sprach gegenüber „Radio Swoboda“ davon, dass Extremismus das sei, was die Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB als solchen bezeichnen.
Mittlerweile hat sich auch die russische Regierung zu den Vorgängen geäußert. Dmitrij Peskow, Pressesprecher des Präsidenten, sagte der Nachrichtenagentur RIA Nowosti, dass man sich dessen bewusst sei, dass „es Fälle gäbe, in denen die Grenze zur Vernunft überschritten sei.“
Lena-Marie Euba