Väterchenunser: In der „Heimat von Ded Moros“

Sein Name ist Frost. Väterchen Frost. Oder Ded Moros, wie auf einem russischen Klingelschild stünde. In Weliki Ustjug muss bei diesem Verwandten des Weihnachtsmanns aber niemand klingeln. Man wird schon erwartet.

Der Haupteingang zum Anwesen von Väterchen Frost bei Weliki Ustjug. (Foto: Tino Künzel)

Typisch Russland: Alle wichtigen Fragen werden in Moskau entschieden – auch die, wer denn nun eigentlich die Kinder nach Art des Weihnachtsmanns beschenken soll. 1937 hatte Ded Moros, zu Deutsch Väterchen Frost, im Moskauer Gewerkschaftshaus seinen ersten großen Auftritt. Sowjetkonform trug er nichts Weihnachtliches im Namen. Auch kam er zu Silvester.

Ende des 20. Jahrhunderts erfand der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow dann die „Heimat von Ded Moros“. Dessen dessen genaue Herkunft hatte die Legende bis dahin offengelassen. Luschkow, ein charismatischer untersetzter Mann mit Schirmmütze, war lange ähnlich populär wie Ded Moros. 2010 wurde er jedoch von einem gewissen Dmitri Medwedew abgesetzt und züchtete nur noch Bienen.

„Staatliches touristisches Projekt“

Doch 1998 ging der Stern des Moskauer Patriarchen gerade erst auf. Dass er ein Auge auf die Kleinstadt Weliki Ustjug in der Region Wologda geworfen hat, wird man dort wohl für einen Glücksfall gehalten haben. Zudem war das vorgeschlagene „staatliche touristische Projekt“ auch mit Millionensummen unterfüttert. Und so wurde hier, 750  Kilometer nordöstlich von Moskau, ein Ded-MorosAnwesen aus der Taufe gehoben. Den sagenumwobenen Alten siedelte man zwölf Kilometer außerhalb der Stadt auf dem Gelände eines früheren Pionierlagers an.

Daraus ist in den letzten 25 Jahren der wohl bekannteste Themenpark Russlands geworden. Speziell Familien mit kleinen Kindern scheuen auch eine Anreise aus anderen Regionen nicht, um Väterchen Frost in seinem Turmhaus, umgeben von anderen Helden der russischen Folklore und Bauten im altrussischen Stil, einen Besuch abzustatten. Geöffnet ist die Anlage sommers wie winters, doch richtig voll wird es hier erst Ende Dezember und besonders an den Neujahrsfeiertagen Anfang Januar. Dann spucken Sonderzüge aus Moskau und St. Petersburg Tausende Gäste auf dem ansonsten verwaisten Bahnhof von Weliki Ustjug aus. Alle wollen sie nach ein paar Stunden oder Tagen in strahlende Kinderaugen schauen und diesen einen Satz hören: „Es gibt ihn wirklich!“

Nicht alle sind begeistert

Mit der Magie ist es natürlich nie so einfach, wenn damit Geld verdient wird. Seit Ded Moros unter die Fremdenverkehrsmagnaten gegangen ist, muss er sich „Kundenbewertungen“ im Internet gefallen lassen. Längst nicht alle davon sind schmeichelhaft. Er habe „zu viel Starallüren“, schreibt Maria auf einer einschlägigen Seite und vergibt nur einen von fünf Sternen. Assja bemängelt den „allgegenwärtigen Kommerz“ und das ungenügende Preis-Leistungs-Verhältnis auf seinem Landsitz. Alex vermisst dort echte Atmosphäre anstatt der nach seinen Worten gekünstelten Stilisierung „à la wahres Russland“. Kritisiert wird, dass sich der Massenbetrieb oft genug lieblos anfühlt, in den nur zwei Gaststätten auf dem Territorium wegen der vielen Touristengruppen häufig kein Platz frei ist und man sich generell kaum irgendwo aufwärmen kann.

Doch zum ganz überwiegenden Teil sind die Kommentare dann doch positiv. „Wunder“, „Märchen“ und „Die Kinder waren begeistert“ gehören zum Standardvokabular. Vielleicht muss man einfach nur die richtige Einstellung mitbringen. Auch Tatjana Gawrisch stimmt in das allgemeine Väterchenunser ein. Sie war Anfang Dezember mit ihrem achtjährigen Sohn bei Ded Moros und fand den Ausflug aus dem benachbarten Kotlas sehr gelungen. Der MDZ hat sie ihre Eindrücke in einem handgeschriebenen Brief geschildert. „Hinter dem Eingangstor erwartete uns eine märchenhafte Atmosphäre, wir konnten die Augen nicht losreißen von der ganzen Schönheit“, heißt es darin.

Sich selbst überlassen

Für das Vergnügen greift man dann auch mal etwas tiefer in die Tasche. Wobei der reine Eintritt zum Park nur 200 Rubel (2 Euro) kostet und für Kinder bis fünf Jahre ganz kostenlos ist. Aber das ist so, als würde man sich die Nase am Schaufenster eines Spielzeugladens platt drücken. Für ein Kombiticket, das auch die Begegnung mit dem Hausherrn einschließt, werden schon 1900 Rubel fällig, für Kinder je nach Alter 1200 bis 1750 Rubel. Wer nicht gerade in der Nähe wohnt, der zahlt für Anreise und Unterkunft noch mal das Doppelte und Dreifache.

Vor diesem Hintergrund könnte man eigentlich erwarten, sich vor Ort nicht auch noch durchfragen zu müssen, wie man von der Busstation wohl in die Innenstadt kommt, von dort zum Themenpark und wieder zurück. In all den Jahren hat man es nicht geschafft, wenigstens in der Hochsaison eine Shuttleverbindung einzurichten und Besucher, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen, nicht komplett sich selbst zu überlassen.

An der Seite Moskaus

Aus Weliki Ustjug wieder abzufahren, ohne es überhaupt gesehen zu haben, ist natürlich indiskutabel. Von der früheren Bedeutung der Stadt zeugen allein 28 Kirchen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Noch früher schlugen sich die lokalen Herrscher im Kampf der russischen Fürstentümer auf die Seite Moskaus und halfen mit, dass es letztlich die Vormacht errang.

Die wichtigste Straße in der Altstadt von Weliki Ustjug trägt auch heute den Namen Sowjetprospekt. (Foto: Tino Künzel)

Die engen Beziehungen haben also nicht mit Juri Luschkow angefangen. Weliki Ustjug soll sogar 1147 erstmals urkundlich erwähnt worden sein, was es zu einem Altersgenossen von Moskau machen würde. Heute ist die Stadt integriert in den Trubel um Ded Moros, der hier unter anderem eine „städtische Residenz“ und eine eigene Poststation unterhält. Auch mehrere Museen greifen das Thema auf.

Viel Wald, Wasser und Sauerstoff

Taxifahrer Wadim findet allerdings, dass die saubere Luft und die abgelegene Lage viel bessere Gründe für einen Besuch sind. „Kommen Sie im Sommer, mieten Sie sich ein Haus im Grünen und spannen Sie mal so richtig aus“, rät er. Wald und Wasser seien die eigentlichen Reichtümer der Gegend. Als er in jungen Jahren aus Workuta im hohen Norden hier angekommen sei, da sei ihm beim Aussteigen aus dem Zug schwindlig geworden vor lauter Sauerstoff.

Was sich für die Einheimischen verändert habe, seit sie Ded Moros zum Nachbarn haben? „Vor allem die Preise. Die sind heute auf Moskauer Niveau, im Gegensatz zu den Gehältern. Hier lässt es sich gut als Rentner leben. Zum Arbeiten und Geldverdienen ist das nichts.“ Es sei denn, man heißt Väterchen Frost.

Tino Künzel

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