TAIGA-Experiment: Was Maas und Lawrow auszeichnen wollten

Kosmische Gammastrahlung ist ein zutiefst rätselhaftes Phänomen. Ein astrophysikalisches Forschungsprojekt in Burjatien geht bei ihrer Erforschung neue Wege und illustriert, warum Kooperation zwischen Deutschland und Russland trotz aller Spannungen Zukunft hat.

Fügt sich in die Flora und Fauna ein: der Standort des TAIGA-Experiments in Sibirien. Auf dem Bild zu sehen sind zwei der 100 HiSCORE-Detektoren, die auf einer Fläche von einem Quadratkilometer verteilt sind. Nachts öffnen sich die Schutzabdeckungen und die hochsensiblen Sensoren messen das sogenannte Cherenkov-Licht, welches in circa 100 Meter breiten, bläulichen Kegeln entsteht, wenn geladene Teilchen oder Gammastrahlung auf die Atmosphäre treffen und dort eine Teilchenkaskade auslösen. Aus der Form und Intensität der für das menschliche Auge unsichtbaren Gammastrahlung lassen sich Rückschlüsse über Prozesse ziehen, die sich etwa in Schwarzen Löchern oder bei Sternenexplosionen abspielen. (Foto: Lucian Bumeder)

Beifall, Blitzlicht und eine Live­schaltung zwischen den Hauptstädten: Zum Abschluss des deutsch-russischen Wissenschaftsjahres nahm der Physiker Ralf Wischnewski Mitte September in Berlin eine Urkunde vom rus­sischen Botschafter Sergej Netschajew entgegen, genauso wie simultan in Moskau sein Kollege Nikolai Budnev von der deutschen Gesandtin Beate Grzeski. Damit wurde ihr TAIGA-Experiment als eines von 25 herausragenden bilateralen Wissenschaftsprojekten ausgezeichnet.

Der Grund für die Urkunde findet sich aber weder in Berlin noch in Moskau, sondern eine Viertel Erdumdrehung weiter östlich: in der russischen Republik Burja­tien. Weit weg von störendem Licht und dank hoher Berge rund um das Tunka-Tal nahe des Baikalsees gut geschützt vor Regen und Wolken, sucht das nun preisgekrönte Experiment von hier aus nach Quellen von Gammastrahlung und kosmischen Teilchenbeschleunigern – also etwa nach explodierenden Sternen oder Galaxien mit superschweren Schwarzen Löchern.

Der Clou versteckt sich in grauen Kästen

TAIGA steht für Tunka Advanced Instrument for cosmic ray physics and Gamma Astronomy. Auf dem Gelände fällt der Blick als erstes auf die großen Spiegel der drei roten IACT-Gammastrahlenteleskope. „Das eigentlich Spannende sind aber die HiSCORE-Detektoren“, korrigiert Wladimir Samoliga und zeigt auf die 100 grauen Kästen, die rund um die Teleskope verteilt sind. „Wenn Gammastrahlung aus dem Weltall auf die Atmos­phäre trifft, löst sie ein Licht aus“, erklärt der Wissenschaftler der Irkutsker Staatlichen Universität (IGU): „Dieses sogenannte Cherenkov-Licht messen wir.“

Und so sieht das Ganze im Winter aus: im Vordergrund ein HiSCORE-Detektor, hinten ein IACT-Teleskop. (Foto: Ralf Wischnewski)

„Gammastrahlen aus dem All sind hochinteressant – aber sehr selten“, erläutert Ralf Wischnewski, der das Projekt auf Seiten des Deutschen Elektronen Synchrotons (DESY) leitet. Sie stünden etwa mit den nach wie vor unbekannten Quellen kosmischer Strahlung in Verbindung, die ohne Unterlass die Erde bombardiere. Um jedoch Gammastrahlen zu messen und von anderer Strahlung zu unterscheiden, benötige man sehr großflächige Messanlagen, im besten Fall mehrere Quadratkilometer. 

Der klassische Ansatz setzt dabei ausschließlich auf Teleskope mit ultraschnellen Kameras. „Das funktioniert, das macht man seit Jahren, aber es stößt eben immer schnell an finanzielle Grenzen“, legt Wischnewski dar und fügt hinzu: „Wir versuchen hier mal was anderes.“ Denn das herkömmliche Modell hat einen entscheidenden Nachteil: Mindestens zwei Teleskope müssen denselben Lichtblitz messen, um alle nötigen Details zu erfassen. Das setzt voraus, sie nah beieinander zu platzieren, bei Kosten von bis zu einer Million Euro pro Teleskop. Großflächige Anlagen sind somit enorm teuer. Hinter dem bisher größten Projekt dieser Art etwa steht ein Konsortium aus 31 Ländern, das mehrere Hundert Millionen Euro sammelt, um demnächst eine Teleskopanlage auf den Kanaren und in Chile zu errichten.

Die im Tunka-Tal verwendeten HiSCORE-Sensoren sind sehr viel günstiger. Anstatt tatsächliche Bilder einzelner Luftschauer aufzunehmen, zeichnen sie nur auf, wann und wo Cherenkov-Licht auf die Erdoberfläche trifft. Weil alle 100 Anlagen auf eine Milliardstel Sekunde genau synchronisiert sind, lassen sich aus diesen Daten die Lichtkegel rekonstruieren und damit auch die Ankunftsrichtung und Energie der Schauer.

Zusammenarbeit – erwünscht, aber nicht einfach

„Die Zusammenarbeit mit Russland ist sehr interessant für uns, wenn auch nicht immer ganz einfach“, gibt Wischnewski zu. Das liege aber gar nicht an Russland. Internationale wissenschaftliche Projekte verliefen nie reibungsfrei. Aber durch die hohen Kosten sei Kooperation unabdingbar. „Und es gibt viele gute, hochspezialisierte Wissenschaftler in Russland“, betont er. In der Zusammenarbeit entstünden häufig vielversprechende Ideen, die sich von klassischen Ansätzen unterscheiden. Dank der aktuell guten staatlichen Förderung für Grundlagenforschung könne man die Ideen auch umsetzen. Russland sei daher ein geschätzter Partner für deutsche Institute. Gleichzeitig würde durch Kooperation hochrangige Grundlagenforschung geschaffen, was wieder mehr langfristige Karrieremöglichkeiten für Nachwuchswissenschaftler in Russland eröffne.

Die Kooperation in der Wissenschaft wird dementsprechend auch auf höchster staatlicher Ebene unterstützt. Eigentlich war geplant gewesen, dass die Verleihung der Urkunden durch die Außenminister beider Länder in Berlin vorgenommen wird. Doch einen Tag nach der Pressekonferenz von Angela Merkel zur Vergiftung von Alexej Nawalny informierte das Auswärtige Amt die russische Seite über eine Terminänderung, wodurch die Teilnahme von Heiko Maas an der Zeremonie nicht möglich sei. Darauf­hin sagte Sergej Lawrow kurz vor der Veranstaltung am 15. September seine Reise nach Deutschland komplett ab. 

Ralf Wischnewski (Mitte) bei der Preisverleihung in Berlin (Foto: DAAD)

Wenn Kooperation persönlich wird

Für die Wissenschaftler sind die Vorteile der Zusammenarbeit greifbar. „Wir haben gemeinsam schon mal etwas ganz Großes erreicht – und das unter sehr widrigen Umständen“, stellt Wischnewski klar. Mehr als 30 Jahre kenne er Nikolai Budnev, den russischen Koordinator des Projekts und Dekan der IGU. 1988 war er noch aus der DDR zum Baikalsee gereist, wo zu diesem Zeitpunkt ein richtungsweisendes Projekt der Neutrinoforschung entstand.

„Die 90er waren dann für die Wissenschaft in Russland eine sehr schwere Zeit“, führt Wischnewski aus. Die Sowjetunion sei auf manchen Gebieten weltführend gewesen. Dann sei ein Großteil der staatlichen Förderung weggebrochen. Teilweise hätten Wissenschaftler ernste Probleme gehabt, ihre Familien zu ernähren. In enger Zusammenarbeit mit Deutschland sei es möglich gewesen, das vielversprechende Projekt zum Erfolg zu führen und das weltweit erste Unterwasser-Neutrino-Teleskop zu errichten. „Wir haben damals kistenweise Ausrüstung nach Russland gefahren – nicht nur Wissenschaftliches, auch Schokolade und Vitamintabletten“, erinnert sich der Wissenschaftler. Aber er macht auch den deutschen Nutzen aus der Kooperation klar: „Ohne die Initialerfolge vom Baikal wäre das DESY-Institut in der Astrophysik heute vermutlich nicht da, wo es ist.“

Wischnewski 1994 im Labor des Neutrino-Teleskops am Baikalsee (Foto: Christian Thiel)

Persönliches Vertrauen fördert die Zusammenarbeit, aber es gibt auch breite institutionelle Unterstützung für wissenschaftlichen Austausch. 2019 verteilte der DAAD fast 6000 Stipendien im Zusammenhang mit Russland. Mit rund 10.500 Studierenden ist Russland das fünftgrößte Herkunftsland für internationale Studierende in Deutschland. „Es ist beeindruckend, wie viel Unterstützung es für Kooperation gibt“, zeigt sich Wischnewski glücklich. Es sei aber auch wichtig, damit verantwortungsvoll umzugehen und nicht die besten Leute aus Russland abzuwerben. „Ich schätze meine Kollegen in Russland sehr – und es ergibt auch wissenschaftlich absolut Sinn, zusammenzuarbeiten“, resümiert der Forscher und sagt: „Zur Eröffnung des Themenjahrs haben sich Maas und Lawrow die Hand gegeben. Es wäre schön, wenn das bald wieder möglich wird – nicht nur um der Wissenschaft willen.“

Lucian Bumeder

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: