Stille Nacht

Der Jahreswechsel wird in Russland diesmal betont defensiv gefeiert. Schon jede dritte Region hat angekündigt, das Festprogramm abzuspecken. Speziell die größten, teuersten und lautesten Veranstaltungen stehen auf der Streichliste. Es gehöre sich nicht, Party zu machen, wenn an der Front gekämpft werde, finden viele. Das Geld soll stattdessen in die Ausrüstung der Soldaten fließen.

Im Vorjahr wurde das Fest auf dem Roten Platz noch groß gefeiert. (Foto: Tino Künzel)

An Silvester wird in Russland zuallerletzt gespart. Selbst wer nicht viel hat, zaubert zumindest allerlei hausgemachte Delikatessen auf einen reich gedeckten Festtagstisch. Nach Mitternacht trifft man sich dann draußen, um bei einem zentralen Feuerwerk gemeinsam das neue Jahr zu begrüßen. Und das ist nur der Anfang der Neujahrsfeiern, die sich über acht, neun Tage erstrecken. Jede Stadt will dabei buchstäblich glänzen.

Regionen treten auf die Bremse

Doch nicht diesmal. Mit der Einberufung von Hunderttausenden Reservisten in diesem Herbst ist das Geschehen an der Front endgültig mitten in der Gesellschaft angekommen und die Stimmung gedämpft. Unter diesen Vorzeichen übt man sich vielerorts in Zurückhaltung. Auf ein Drittel bezifferte die Tageszeitung „Kommersant“ Ende Oktober die Zahl der Regionen, die bereits verkündet haben, auf größere Festveranstaltungen zu verzichten. Das gesparte Geld soll in die Ausrüstung der Soldaten fließen und ihren Familien zugutekommen.

Die Lage sei „nicht einfach, sowohl an der Front als auch in der Wirtschaft“, wird Michail Wedernikow zitiert, der Gouverneur der Region Pskow, die an die EU-Länder Estland und Lettland grenzt. „Feuerwerke, schillernde Konzerte mit bekannten Künstlern, Massenveranstaltungen“, so Wedernikow, seien „unpassend“ und würden „auf alle Fälle abgesagt“. Sein Kollege Radi Chabirow, Chef der Teilrepublik Baschkortostan, teilte Vertretern von Städten und Gemeinden seiner Region mit, er würde „sehr sauer“ reagieren, sollten sie sich erlauben, Künstler für Auftritte zu engagieren. „Wenn ihr wollt, dann greift selbst zum Akkordeon und singt“, sagte er und warnte gleichzeitig, auch der Kauf neuen Festtagsschmucks sei „verboten“. Stattdessen sollten die kürzlich mobilgemachten Soldaten und ihre Familien materiell unterstützt werden.

„Minimisieren und umformatieren“

In Nowosibirsk sieht man das offenbar ganz ähnlich. Dabei war die Millionenstadt vom Kulturministerium zur diesjährigen „Neujahrshauptstadt“ Russlands auserkoren worden. Gefeiert werden sollte an acht Standorten, einschließlich einer Väterchen-Frost-Parade. Allein für Lichterketten waren Ausgaben in Millionenhöhe veranschlagt. Doch nun wolle man die Festivitäten „minimisieren und umformatieren“, erklärte Vizebürgermeisterin Anna Tereschkowa. Die Silvesterfeier auf dem Leninplatz in der Stadtmitte fällt ebenso aus wie das gewohnte Feuerwerk. „In der heutigen Situation“, sagte Gouverneur Anatoli Lokot, sollten die Veranstaltungen nicht „großspurig“ sein. Stattdessen wolle man sie auf Kinder zuschneiden, besonders aus Familien, in denen die Väter an die Front mussten.

Einer der ersten, der vor Wochen ein Spar-Neujahr ausrief, war Dmitri Denissow. Der Bürgermeister des südwestlich von Moskau gelegenen Kaluga, das auch als Standort eines VW-Werks mit 4000 Beschäftigten bekannt ist (wo die Produktion seit März stillsteht und ziemlich sicher auch nicht wieder aufgenommen wird), gab bekannt, seine Stadt werde diesmal mit dem geschmückt, was aus vergangenen Jahren noch vorhanden sei. Die Einberufenen aus der Gegend hätten das Geld nötiger, um vernünftig ausgestattet zu sein.

Verteidigungsminsterium bestreitet Mangel

Dem Verteidigungsministerium schmecken derartige Initiativen nicht. Der Eindruck, die russischen Soldaten würden schlecht ausgerüstet in den Kampf geschickt, entspricht ganz und gar nicht dem Bild der erfolgreichen Armee, das man selbst gern vermittelt. Und so wurde eine Stellungnahme des stellvertretenden Verteidigungsministers Viktor Goremykin verbreitet, die besagten Maßnahmen seien „unnötig“. Die Soldaten hätten alles, was sie brauchen.

Doch in Russland vergeht kaum ein Tag ohne Klagen über elementare Mängel an Bekleidung, an Essen, Medikamenten, Unterkünften, ja sogar an Waffen. Eine häufige Beschwerde ist auch, dass die Soldaten sich vieles selbst kaufen mussten. Ständig wird irgendwo für die Bedürfnisse der Front gesammelt, geschneidert und gewerkelt.

74 Prozent für Spar-Neujahr

Der Kreml soll es den regionalen Behörden selbst überlassen haben, was sie in diesem Kontext unternehmen, auch mit Blick auf Volkes Meinung. Und die Bevölkerung ist offenbar ganz und gar nicht in Champagnerlaune. Es kommt an, wenn derzeit nicht die Korken knallen, als sei nichts gewesen. Eine aktuelle Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM ergab, dass es 74 Prozent der Russen gutheißen, die Neujahrsfeierlichkeiten abzurüsten, wenn das Geld an die Soldaten geht. Als häufigster Grund (47%) wurde genannt, dass die Versorgung der Armee zu wünschen übrig lasse. Außerdem (24%) solle man in Kriegszeiten, wenn Menschen sterben, nicht feiern.

Offen ist noch, was nun aus den üblicherweise besonders aufwändigen Festveranstaltungen in Moskau wird. Das Rathaus schweigt sich dazu bisher aus. In den vergangenen Jahren hatten allein das Festival „Reise nach Weihnachten“ und der Weihnachtsmarkt des GUM auf dem Roten Platz Millionen Besucher angelockt. Doch zuletzt war schon die ausschweifende Art und Weise, mit der in Moskau scheinbar ungerührt der 875. Stadtgeburtstag begangen wurde, vielen sauer aufgestoßen.

Tino Künzel

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