Spielwiese statt Flughafen: Das Chodynkafeld gestern und heute

Zaren, Flieger, Militärs: Sie alle hat das Chodynkafeld er- und überlebt. Doch über seine lange Geschichte ist inzwischen Gras gewachsen. Buchstäblich. Denn wo im 20. Jahrhundert ein Flughafen war, befindet sich seit 2018 einer der attraktivsten Parks von Moskau.

Urbaner Traum: Das wurde aus dem ehemaligen Flughafengelände. (Foto: Tino Künzel)

Walerij Tschkalow hätte dort landen sollen, wo sich heute Sonnenhungrige auf dem Rasen räkeln, wo Kinder auf Gerüsten herumtollen und sich eine Entenfamilie dabei zuschauen lässt, wie sie auf einem künstlichen Teich ihre Art von Synchronschwimmen praktiziert. Tschkalow war an jenem 15. Dezember 1938 auf dem Rückweg von einem Testflug mit dem Jagdflugzeug Polikarpow I-180, als die Maschine gut einen Kilometer vor dem Ziel nach links abschmierte, mit Stromleitungen kollidierte und am Boden zerschellte. Der Pilot, ein gefeierter Flugpionier in der Sowjetunion, erst 34 Jahre alt, starb im nahegelegenen Botkin-Krankenhaus.

Das Krankenhaus gibt es immer noch, doch ansonsten ist die mal tragische, mal vergnügliche Geschichte dieser Gegend nahe dem Leningrader Prospekt in Moskau kaum noch gegenwärtig. Zu viel hat sich auf dem Chodynkafeld gerade in den letzten 15 Jahren verändert, als dass man den Schauplatz historischer Ereignisse in seinem modernen Gewand wiedererkennen würde. Die Metrostation „Aeroport“ ist eine der letzten Erinnerungen daran. Heute liegen die Moskauer Flughäfen längst draußen vor der Stadt, doch als die Station 1938, im Jahr von Tschkalows Tod, eröffnet wurde, da war „draußen vor Stadt“ hier.

Mit dem Flugzeug nach Berlin

Das Chodynkafeld hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen als Russlands erster Verkehrsflughafen gemacht. Die Wurzeln reichten bis ins Jahr 1910 zurück. Ab 1922 wurde von hier aus Berlin (über Königsberg) angeflogen, im selben Jahr war Premiere für den ersten Binnenflug nach Nischnij Nowgorod. Bis 1941 der Flughafen Wnukowo den Betrieb aufnahm, wurde der Luftverkehr zum Großteil über das Zentrale Frunse-Aerodrom, wie es damals hieß, abgewickelt. In dem Maße, wie sich Moskau in den Nachkriegsjahrzehnten ausdehnte, verlor der Flughafen allerdings später an Bedeutung, musste er doch nun schließlich als fast schon zentrumsnah gelten. Der Akzent verlagerte sich schnell von Linien- zu Testflügen. 2003 gingen endgültig die Lichter aus.

Teile des ehemaligen Flughafengeländes wurden in den darauffolgenden Jahren bereits bebaut, darunter mit Russlands größter Mall „Aviapark“, 2014 eingeweiht. In einem Halbkreis um das Rollfeld und die Start- und Landebahn herum entstand eine der weitläufigsten Wohnanlagen von Moskau – „Grand Park“ mit 4743 Wohnungen in Gebäuden unterschiedlicher Form und Größe. 2017 musste auch das ehemalige Flughafengebäude aus den 1960er Jahren einer weiteren gehobenen Wohnanlage weichen. Für den Rest des Areals bedurfte es einer längeren Sinnsuche, bis auf den 25 Hektar vor drei Jahren ein Park eingeweiht wurde.

Ein ziemlich exakte Vorstellung vom Park auf dem Chodynkafeld vermittelt diese Projektdarstellung. (Foto: Wikimedia Commons)

Als ein Volksfest zur Katastrophe wurde

Doch zur Historie des Chodynkafelds gehören noch ganz andere Seiten. Als riesige Freifläche erfreute es sich schon anno dazumal großer Beliebtheit, wenn es bombastische Messen zu veranstalten galt. Oder Volksfeste. Hier ließen sich unter anderem Zaren nach ihren Krönungszeremonien feiern. Am 18. Mai 1896 nahm das kein gutes Ende. Eine halbe Million Menschen wollte an diesem Tag Nikolaus II. zuzujubeln, aber nicht nur das. Auch die Ankündigung, sie würden kostenlos verköstigt, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Um den Moment der Essensausgabe nur nicht zu verpassen, kamen viele bereits am Vorabend. Als dann am frühen Morgen das Gerücht die Runde machte, die „Geschenke“ würden bereits verteilt, geriet die Menge außer Kontrolle. In dem folgenden Gedränge wurden 1389 Menschen zu Tode gequetscht. Für den neuen Zaren galt ein Amtsantritt unter solchen Umständen schnell als schlechtes Omen, woran besonders in späteren Jahren gern erinnert wurde, als die Monarchie in Russland unter Druck geriet und Nikolaus II. 1917 abdanken musste.

1882: Technikmesse auf dem Chodynkafeld (Foto: Publikation „850 Jahre Moskau“/Nördlicher Amtsbezirk)
1896: Menschenmenge in Erwartung von Zar Nikolaus II. (Foto: Makowsky.W/Wikimedia Commons)
2012: Eine MIG-21 fristet ihr Dasein zwischen Gestrüpp. (Foto: Alan Wilson/Wikimedia Commons)

Die Moskauer Bohème fand ebenfalls Gefallen an dem Ort, nur bevorzugte sie die andere Straßenseite der damaligen Petersburger Chaussee. Dort wohnte man im Grünen und an Möglichkeiten zum Ausgehen bestand kein Mangel. Das wohl berühmteste Etablissement war das legendäre Restaurant „Jar“. Unter der Sowjetmacht wurde es zum Hotel Sowjetskaja umgebaut. Dort stiegen von Margaret Thatcher bis zu Nicolae Ceaușescu zahlreiche ausländische Staatsgäste ab. Inzwischen versucht das Hotel, an vorrevolutionäre Zeiten anzuknüpfen, dazu wurde auch das „Jar“ im alten Gewand neu aufgelegt.

Autorennen, Unkraut und Altmetall

Eine lange Tradition hat die militärische Nutzung des Chodynkafelds. Von alters her wurden hier Paraden abgehalten. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein diente es als Sammel- und Aufmarschplatz, wenn am 9. Mai die Kolonnen mit Militärtechnik zum Roten Platz rollten. In der Nachbarschaft des Flughafens siedelten sich seinerzeit führende sowjetische Flugzeugbauer und Forschungseinrichtungen an. Noch heute hat hier der Flugzeughersteller Suchoj seinen Sitz. So erklärt sich auch, dass nicht alle Bereiche rund um das Chodynkafeld öffentlich zugänglich sind, anders als zahlreiche Sportanlagen des Armeesportklubs ZSKA, die in der Gegend errichtet wurden. Einige der Hallen gehen auf die Olympischen Spiele 1980 in Moskau zurück. Aber es gibt auch Modernes: Mit der WEB Arena bekam der Fußballklub ZSKA hier 2016 sein eigenes Stadion. Vorher hatte der UEFA-Cup-Sieger von 2005 in Luschniki und in Chimki gespielt.

Nach dem Aus für den Flughafen wusste man mit dem asphaltierten Nichts mitten in Moskau lange nichts anzufangen. In den 1990er Jahren wurden hier Motorsportveranstaltungen ausgerichtet. Ausrangierte Flugzeuge und Hubschrauber rosteten unter freiem Himmel vor sich hin. Die Gedankenspiele, an traditionsreicher Stelle ein Nationales Luftfahrtmuseum zu errichten, wurden nie konkret. 2012 kauften Liebhaber auf, was an der betagten Technik zumindest noch zum Museumsexponat taugte, und der Flugzeugfriedhof verschwand.

Der Park auf dem Chodynkafeld heute: Hier und da wird auf seine Flughafenvergangenheit angespielt. (Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)

Letztlich fand auch diese Leerstelle der Stadtentwicklung ihre Bestimmung. Dem Trend zu hochwertigen öffentlichen Räumen, zu mehr Fußgängerfreundlichkeit und Grün folgend, wurde auf dem historischen Boden ein Park angelegt. Er lässt gerade in Sachen aktiver Erholung kaum Wünsche offen: Mit Radwegen, Megaschaukel, Kinderspielplätzen, Freizeitzentrum, Skatepark, allen möglichen Sportfeldern und seinen schieren Dimensionen lädt er zu Spiel und Spaß für die gesamte Familie ein, aber auch zum bloßen Ausruhen auf den Liegewiesen oder den vielen Bänken. Bei der Rekordhitze in diesem Sommer war speziell das Fontänenfeld der große Renner. Die Erfrischung aus zahlreichen Düsen sorgte vor allem bei kleinen Besuchern für Begeisterung. Im Winter hingegen – besonders, wenn er so schneereich ist wie der letzte – verlagert sich das Geschehen auf die künstlichen Hügel, die dann zu Abfahrtshängen werden.

Badewetter im Park (Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)
(Foto: Tino Künzel)

Kleiner Bonus am Rande: Der Park auf dem Chodynkafeld ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln besonders bequem zu erreichen. Die nächstgelegene Metrostation ZSKA befindet sich nicht einfach nur in der Nähe, sondern direkt auf dem Gelände.

Eingang zur Metrostation ZSKA, die zur Großen Ringlinie gehört (Foto: Tino Künzel)

Tino Künzel

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