Proletarier aller Länder: Die internationale Kommune von Kemerowo

Die sibirische Großstadt Kemerowo tauchte auf den Landkarten erst 1932 auf. Doch Kohle wurde 3000 Kilometer östlich von Moskau auch schon zuvor gefördert und ab 1924 zu Koks veredelt. Hunderte Ausländer – vor allem Amerikaner und Holländer, aber auch Deutsche – packten dabei mit an und hinterließen Spuren. Ein Stück Sowjetgeschichte mit dem Abstand von 100 Jahren.

Dort, wo in den 1920er Jahren sibirische Industriegeschichte geschrieben wurde, befindet sich heute das Museum Krasnaja Gorka, von dem auch diese Illustration stammt.

Steinkohle wurde im Kusbass 1721 entdeckt. Doch die ersten Gruben datieren von Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Gründung des Bergwerks von Kemerowo geht auf das Jahr 1907 zurück. Geheimrat Wladimir Trepow, dem die Zarenregierung den Kusbass zur Erschließung überließ, gewann Investoren in Frankreich und Russland für sein Projekt Kopikus. So begannen 1913 die systematische Erforschung des Kusnezker Kohlebeckens (Kusbass), der Bau von Gleisen, neuen Gruben und die Modernisierung der Bergwerke. Bis 1917 stieg die Kohleförderung auf das 15-Fache.

Doch 1918 wurde Trepow erschossen. Die Aktionäre emigrierten ins Ausland. Bis 1920 war die Verstaatlichung von Kopikus abgeschlossen.

Von einem Traum geleitet

Dafür brachte das Schicksal nun einige Leute zusammen, die eine Schwäche für die junge Sowjet­union hatten. Zu ihnen gehörte der vormalige Ford-Techniker Herbert Calvert, Mitglied der Gewerkschaft International Workers of the World (IWW). Eine ausländische Industriekolonie auf sowjetischem Boden zu errichten, war seine Idee, sein utopischer Traum. An seiner Seite: der Bergmann William „Big Bill“ Haywood, einer der führenden IWW-Funktionäre, in den USA aus der Haft geflohen. Der holländische Ingenieur, Kaufmann und Kommunist Sebald Rutgers reagierte auf die Nachricht von der Revolution in Russland, indem er von Japan über den russischen Fernen Osten nach Moskau eilte.

Und dann war da noch Ludwig Martens, ein deutschstämmiger russischer Staatsbürger und Kommunist, dessen Vater eine Stahlgießerei in Kursk besaß. 1896 kam er wegen „regierungsfeindlicher Propaganda“ ins Gefängnis und wurde drei Jahre später nach Deutschland abgeschoben. Er vertrat die Interessen der russischen Demidow-Großindustriellenfamilie in Großbritannien, später in den USA. Nach seiner Ernennung zum Vertreter des Volkskommissariats für internationale Beziehungen im Jahr 1919 wiesen ihn die Vereinigten Staaten aus.

Martens, Rutgers und Calvert schrieben 1921, am Rande des dritten Weltkongresses der Komintern in Moskau, einen Brief an den „lieben Genossen Lenin“. Darin stellten sie ihren Plan „industrieller Arbeitskolonien ausländischer Arbeiter und Spezialisten aus industriell entwickelten Ländern wie den USA und Deutschland“ vor.

„Ohne Kapitalisten, ohne Ausbeuter“

Lenins Antwortschreiben ging an Martens, der von Wirtschaft mehr verstand als seine ausländischen Kollegen, dem Obersten Rat für Volkswirtschaft angehörte und die Fachbehörde Glawmetall leitete. Doch bald darauf zog er sich aus dem Projekt zurück. Internationale Solidarität sei wichtig, man dürfe ihre Bedeutung aber auch nicht überschätzen, meinte er zu Rutgers. Der widersprach: „Arbeiter aus kapitalistischen Ländern, die einen vorbildlichen Betrieb ohne Kapitalisten, ohne Ausbeuter aufbauen, die zu Gunsten des Allgemeinwohls auf Profit verzichten … Sie glauben ja gar nicht, was für eine Anziehungskraft das für Arbeiter aus Europa und Amerika haben wird!“

Lenin hieß die Initiative gut. Am 22. November 1921 wurde ein Vertrag über die Schaffung der Autonomen Industriellen Kolonie (AIK) „Kusbass“ unterzeichnet. Sebald Rutgers wurde ihr Leiter. Die sowjetische Regierung stellte 300.000 Dollar für das Projekt bereit.

Mit der Internationale begrüßt

In den USA und in Europa wurden Maschinen angekauft und Arbeitskräfte angeworben. Mancherorts unterhielt die AIK eigene Repräsentanzen, darunter in der Straße Unter den Linden in Berlin. Freiwillige, die beim Aufbau des Kommunismus mithelfen wollten, schlossen einen Vertrag über zwei Jahre ab und zahlten 300 Dollar Aufnahmegebühr, womit die Kosten für Transport, Werkzeug und Verpflegung gedeckt wurden. Was zum Leben in diesen zwei Jahren gebraucht wurde, führten die Kolonisten mit sich: Lebensmittel, Saatgut, Pflüge oder auch einen Traktor.

1922 wurden die ersten 400 Neuankömmlinge in St. Petersburg feierlich mit Orchestermusik, der Internationale und roten Bannern begrüßt. Nach Sibirien ging es von dort weiter mit dem Zug. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits rund 2000 russische Arbeiter und Ingenieure eingestellt.

Die AIK befand sich im Herzen der heutigen Großstadt Kemerowo mit einer halben Million Einwohner. Doch damals war das alles noch Zukunftsmusik. Am einen Ufer des Flusses Tom lagen das Bergwerk und das Dorf Kemerowo, am anderen Scheglowsk, eine Stadt als Zusammenschluss mehrerer Dörfer, in denen 25.000 Menschen lebten. Beide Ufer waren nur durch eine Seilbahn zum Kohletransport miteinander verbunden.

Das Haus, von dem aus der Holländer Sebald Rutgers einst die Geschäfte der Kolonie „Kusbass“ leitete. (Foto: Wikimedia Commons)

Das erste Kokswerk von Sibirien

Facharbeiter für die AIK kamen auch aus Deutschland, vor allem aus Schlesien und dem Ruhrgebiet. Es handelte sich etwa um Elektriker, Schlosser und Ingenieure, die dem Ruf der KPD gefolgt waren. Und während die meisten Amerikaner vor Ort in den Kohlegruben arbeiteten, während Holländer und Finnen sich vor allem um Baumaßnahmen kümmerten, war die „Spezialisierung“ der Deutschen das Hauptprojekt der Kolonie – das erste Kokswerk von Sibirien. Errichtet noch zu Zarenzeiten von Kopikus, musste es grundlegend umgebaut und die ausländische Technik eingebaut werden. Das gelang trotz des sibirischen Klimas und trotz mancher Widerstände von einheimischen Fachleuten und Behördenvertretern in kürzester Frist, was einen grandiosen Erfolg für die Kommune bedeutete.

Vor 100 Jahren, am 2. März 1924, nahm die Kokerei ihren Betrieb auf. Die erste Batterie bestand aus 50 Öfen. 1925 kam eine zweite Batterie mit weiteren 50 Öfen dazu. Der Koks wurde an die metallurgischen Werke im Ural geliefert und erhöhte ihre Produktivität um ein Drittel. Die Geografie der Abnehmer erweiterte sich permanent. Koks und Chemieprodukte gingen in die verschiedensten Gegenden Russlands. Im alten Werk wurde bis 1979 produziert, dann ein neues eröffnet.

Mini-Europa mit „Würsten“

Eines der vorrangigsten Probleme in der Kommune war die Wohnungsfrage. Die ersten ausländischen Freiwilligen aus den USA hatten buchstäblich kein Dach über dem Kopf. Doch die Pläne von Rutgers waren viel weitreichender: Nicht nur wollte er die Kolonisten mit komfortablem Wohnraum versorgen, sondern auch die eher ungepflegte und dörflich anmutende Umgebung verschönern. Binnen weniger Jahre sollte europäischer Städtebau im Kusbass Einzug halten. Mit solchen Perspektiven – und einer Verdopplung des Gehalts – lockte Rutgers seinen Landsmann Johannes van Loghem nach Sibirien, einen namhaften Architekten und Stadtplaner.

Bereits 1926 hatten alle ausländischen Arbeitskräfte eine eigene Wohnung. Die ungewohnten Reihenhäuser wurden von den Einheimischen argwöhnisch beäugt und „Würste“ genannt. Sie hatten zwei Eingänge – einen zur Straße und einen zum Vorgarten. Die Wohnfläche war mit zehn Quadratmetern pro Kopf bemessen, dem Vierfachen der sowjetischen Norm.

Unter van Loghem entstanden vier Wohnsiedlungen mit Hunderten Häusern. Er projektierte ein Elek­trizitätswerk, die Feuerwehr, Schule, Geschäfte und eine öffentliche Banja. Doch die Kritik, die Anfeindungen in den Zeitungen, ausbleibende Lieferungen und Missachtungen der Technologie entnervten ihn. Enttäuscht verließ er den Kusbass und schrieb im September 1927 in sein Tagebuch, dass er „die Nase voll“ von Russland und der „Bande fauler Bürokraten“ habe.

Van Loghems Erbe verfällt heute zusehends. In etwas besserem Zustand sind nur jene Häuser, die für ausländische Fachkräfte gebaut wurden. Von ihrer früheren Schönheit ist allerdings kaum etwas übrig.

Das Aus

Ende 1926 zählte die AIK 763 Ausländer. Vom erfolgreichen Verlauf des Industrieexperiments zeugte der Reinerlös von einer Million Gold­rubel 1924. Die Löhne wurden pünktlich gezahlt, Kranke mit fortschrittlicher Technik behandelt. Die Kolonisten betrieben ihre eigene Landwirtschaft, sodass mit der Zeit aus dem Ausland nur noch Kaffee, Kakao, Tabak und Obstkonserven eingeführt werden mussten. Sogar eine Brücke zwischen den Tom-Ufern war im Gespräch, nach Art der Brooklyn Bridge.

Doch der Neid der örtlichen Stellen und von Konkurrent Kusbass­trest machte alle Pläne zunichte. Moskau wurde mit Beschwerden überhäuft. Dort schwand derweil die Hoffnung auf die Weltrevolu­tion. Ein so unkonventionelles Projekt und seine bedingte Autonomie passten immer weniger in die Zeit, zumal nach Lenins Tod. Im Juli 1927 erging der Erlass zur Auflösung der AIK „Kusbass“.

Olga Kolpakowa

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