Philosophenschiff: Als führende Intellektuelle ausgewiesen wurden

Vor 100 Jahren mussten gleichzeitig mehr als 200  Vertreter der Intelligenz Russland verlassen. Das war ein Schlag für das gesellschaftliche Leben des Landes, aber die Rettung für die neuen sowjetischen Machthaber, die innere Feinde fürchteten. Von dieser erzwungenen Emigration erzählt jetzt eine Ausstellung im „Haus des russischen Auslands“ in Moskau.

Reise ohne Wiederkehr: Der Dampfer „Oberbürgermeister Haken“ brachte die russischen Emigranten nach Stettin (Foto: Wikimedia Commons)

In der vierten Etage des riesigen Museums „Haus des russischen Auslands“ hat die kleine Ausstellung „Der Philosophendampfer mit sieben Passagieren“ einen Platz gefunden. Hier gibt es fast keine Exponate, dafür aber viele Informationstafeln mit den Biografien der bekanntesten Passagiere des Schiffs. Natürlich wussten sie nicht, dass sie sich auf einem solchen Dampfer befinden. Den Begriff „Philosophenschiff“ erfand der Philosoph und Mathematiker Sergej Choruschi in einem Artikel von 1990 zu diesem Thema. Es ist ein Oberbegriff für jene Schiffe, mit denen im Jahre 1922 auf Initiative Lenins und Trotzkis Vertreter der intellektuellen Elite ausgewiesen wurden.

Nach verschiedenen Angaben betrug die Anzahl der Passagiere zwischen 228 und 272. Unter den Ausgewiesenen befanden sich auch die sieben Philosophen, Wissenschaftler und Theologen Pitirim Sorokin, Iwan Iljin, Nikolai Berdjajew, Sergej Bulgakow, Nikolai Losski, Fjodor Stepun und Semjon Frank, die im Westen sehr bekannt waren. Heute werden ihre Arbeiten an allen philosophischen Fakultäten der führenden europäischen und amerikanischen Universitäten gelehrt. Und Fragen zu Pitirim Sorokins Theorie der sozialen Stratifikation gehören zum Prüfungsstoff an den staatlichen Schulen in Russland.

Historischer Kontext

In Russland war vor 100 Jahren gerade der Bürgerkrieg vorbei. Das am Boden liegende Land musste seine Wirtschaft wieder aufbauen. Zu diesem Zwecke wurde das Programm der zeitweiligen Neuen Ökonomischen Politik (NEP), das marktwirtschaftliche Verhältnisse, also Kapitalismus zuließ, auf den Weg gebracht. Zusammen mit der Wirtschaft kam auch in die Gesellschaft Leben. Es bildeten sich verschiedene Zirkel und Gesellschaften, wo Philosophen, Literaten und Theologen die Ideen des Bolschewismus diskutierten und sie folgerichtig ablehnten, wobei niemand der gesellschaftlichen Aktivisten offen zum Sturz der Sowjetmacht aufrief. Alles geschah im Rahmen wissenschaftlicher Universitätsdispute.

Diese „Gespräche“ missfielen Lenin jedoch sehr. In seinem Artikel „Über den militanten Materialismus“ vom 12. März 1922 schrieb er, dass man einige Lehrkräfte und Mitglieder wissenschaftlicher Gesellschaften „freundlich in Länder der bourgeoisen Demokratie abschieben sollte“.

Für den Anfang beauftrage Lenin den Volkskommissar für innere Angelegenheiten, Felix Dserschinski, zu kontrollieren, ob die Mitglieder des Politbüros mindestens zwei bis drei Stunden pro Woche für die Überprüfung der in Russland publizierten Bücher und Zeitschriften verwenden. Bereits im Juni 1922 erstellte Dserschinski eine Liste von „antisowjetischen Gruppierungen unter der Intelligenz“. Auf dieser Liste standen sowohl Philosophen als auch Wissenschaftler, Literaten und Theaterleute.

In den Jahren 1922 und 1923 führten die Bolschewisten eine umfangreiche Aktion zur „Säuberung“ der russischen Intelligenz durch. Sie begannen bei den politisch aktiven Gruppen und hörten bei den verstreuten Gesellschaften der Wissenschaftler, Literaten und Philosophen auf, die unpolitisch bleiben wollten. Einige von ihnen hatten durchaus vor, in Russland zu bleiben und ihrem Land zu dienen.

Ehrenvolle Verbannung

Die Verhafteten wurden nach zuvor erstellten Verhörvorlagen verhört. Der Journalist Nikolaj Osogin schrieb in seinen Memoiren, dass das Verhör eine reine Formalität war. Niemand interessierte sich für die Antworten, alle inhaftierten Intelligenzler wurden antibolschewistischer Tätigkeit beschuldigt. Anstelle der Todesstrafe bot man ihnen die Ausreise an. Sowohl Lenin als auch sein Mitstreiter Trotzki hielten dieses Strafmaß für nicht begangene Verbrechen für human.

In einem Interview mit der amerikanischen Journalistin Anne Louise Strong vom 30.  August  1922 bemerkte Leo Trotzki: „Diese Elemente, die wir ausweisen oder ausweisen werden, sind politisch bedeutungslos. Aber sie sind potenzielle Waffen in den Händen unserer möglichen Feinde. Im Falle neuer militärischer Auseinandersetzungen werden all diese unversöhnlichen und unverbesserlichen Elemente zu einer militärpolitischen Agentur. Und dann werden wir sie nach den Gesetzen des Krieges erschießen müssen. Deshalb zogen wir es vor, sie jetzt, in einer ruhigen Zeit, rechtzeitig auszuweisen. Ich verleihe der Hoffnung Ausdruck, dass Sie es nicht ablehnen werden, unsere weitsichtige Humanität anzuerkennen und sie vor der öffentlichen Meinung in Schutz zu nehmen, wenn es notwendig ist.“

Die Machthaber rechneten aus, dass für die Deportation dieser 200  Personen ungefähr 42,4 Milliarden sowjetische Rubel vonnöten seien. Das war eine recht stattliche Summe, deshalb wurde den Arrestanten vorgeschlagen, auf eigene Kosten auszureisen. Diesen Vorschlag nahmen nur 23  Personen an, die anderen wurden auf Staatskosten auf die Reise geschickt. Dafür wählte man den billigsten Weg – den Seeweg. Man verlud sie auf zwei Schiffe nach Deutschland, für den Anfang.

Reisevorbereitungen

Die Vorbereitungen auf die Reise waren ziemlich schwierig. Deutschland, wohin die Bolschewisten die meisten Intellektuellen schicken wollten, verweigerte die Visa. Reichskanzler Wirth konstatierte, dass Deutschland nicht Sibirien sei und man niemanden dahin verbannen könne. Er fügte jedoch hinzu, wenn die Leute selber die Visa beantragen, so wird Deutschland sie erteilen. So ist es auch geschehen.

Um die Ereignisse vorweg­zunehmen sei gesagt, dass das Land die Emigranten gastfreundlich aufnahm und ihnen half, sich in der neuen Heimat einzurichten. Der Philosoph Fjodor Stepun bekam eine Stelle als Professor für Soziologie an der Technischen Universität Dresden (TU). Später leitete er den Lehrstuhl für Geschichte der russischen Kultur an der Münchner Universität. Semjon Frank und Nikolai Berdjajew eröffneten in Berlin eine Akademie für Religion und Philosophie.

Der erste Dampfer „Oberbürgermeister Haken“ verließ den Petrograder Hafen am 29. September1922 in Richtung Stettin, am 16. November legte das Dampfschiff „Preussen“ ab. Danach folgten Schiffe aus Odessa, die nach Varna und Konstantinopel fuhren, es gab aber auch Züge nach Lettland und Deutschland.

Es muss noch gesagt werden, dass die „Philosophen“ vor der Reise darauf aufmerksam gemacht wurden, dass sie einer Rückkehr erschossen würden. Keiner der Passagiere kehrte nach Russland zurück, einige kamen immerhin nach ihren Tod wieder nach Hause. Sie hatten in ihrem Testament verfügt, in der Heimat begraben zu werden.

Ljubawa Winokurowa

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