Leben zwischen zwei Diktaturen – „Zehn Frauen am Amur“ von Angela Rohr

Die von Rainer Maria Rilke für ihre frühe Prosa bewunderte Ärztin und Schriftstellerin Angela Rohr überlebte den sibirischen Gulag. Ihre Feuilletons und Erzählungen aus der Sowjetunion sind jetzt im Basis Druck Verlag erschienen.

Die, die das vergangene Jahrhundert überlebten, ohne das Antastbarste, die Würde des Menschen, zu verlieren. Die, die von irgendwoher die Kraft und Resilienz in sich trugen, zu widerstehen. Die, die Hitler oder Stalin besiegten, weil sie nicht wurden, wie sie – und manchmal beide. Immer noch beginnen wir, zu begreifen, was sie uns sind, diese Seltenen, Einzelnen. Beginnen Texte zu finden, die gerettet aus dem einen großen Scheiterhaufen zweier Diktaturen, auf Geschichte warteten. Oder handelt es sich um eine Nachzüglerin? Jedenfalls kommen die Texte zeitig. Denn gerade jetzt werden die Unterschiede zwischen Lager und Lager wieder gesucht und zu oft mit der Lupe gefunden. Straflager, Besserungslager, Aufbewahrungslager – Ankerzentrum heißen sie heute.

Angela Rohrs Texte konnten weder in der DDR noch in der Sowjetunion veröffentlicht werden. Ihre sensible Wahrnehmung der Welt, ihre feine Sicht auf den einzelnen Menschen, ihr unbedingter Lebenswillen in einer aus den Fugen geratenen Welt und ihre Entwicklung hin zu starker innerer Festigkeit, verbunden mit einer ebensolchen schriftstellerischen Form, warten bis heute auf breite öffentliche Entdeckung und Würdigung. 

„Zehn Frauen am Amur“ versammelt zwischen 1928 und 1936 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung veröffentlichte Reportagen und Erzählungen. 

Mit Angela Rohr publizierten dort in den 1930ern Aldous Huxley, Ernest Hemingway, André Gide aber auch Hannah Arendt und Walter Benjamin. Die Achtung, die den kurz nach Ankunft der Mitte dreißig Jährigen in der Sowjetunion einsetzenden Berichten entgegengebracht wurde, zeigt ihr regelmäßiger Abdruck auf der ersten Seite. Die Bilder in „Zehn Frauen am Amur“ sind von Margarete Steffin, einer der engsten Mitarbeiterinnen Bertolt Brechts. 

Zunächst erinnern die Feuilletons an die bis heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinende Rubrik der „Momentaufnahme“, zum Beispiel während einer Fahrt in der Moskauer Straßenbahn 1932: „Nun, es kommt doch immerhin vor, daß ein Nachbar trotz aller Beschwörungen nicht von der Stelle weicht, scheinbar gar nicht weichen kann. Da bleibt dann nichts anderes übrig, als Gewalt anzuwenden. Man versetzt ihm dann, meistens heimlich und an nicht sichtbarer Stelle, einen Stoß. Ein schiefer Blick auf den Gegner, und das schwirrende Geräusch im Wagen ist um ein Wort reicher: „Hut!“. 

Angela Rohr widmete sich vor allem den kleinen Leuten: „Wie unmißverständlich ist doch dieses Schimpfwort, denn als ein solches muß es gelten. Man ist (fast ohne es zu wollen) gezwungen, sich zu erinnern, daß der Hut eine Art Symbol, ein Klassenabzeichen ist und sein Anblick hier, in bestimmten Schichten auch jetzt noch, eine verächtlich machende Heiterkeit auslöst: In den heutigen Tagen bezeichnet „Hut“ einen Schwächling, ein saft- und kraftloses Subjekt, eben den nun endgültig entarteten Herrn.“

Die Berichte dieser Zeit sind leicht und ausufernd, klug, humorvoll und durch die Lust an der Beobachtung beschwingt. Für deutschsprachige Leser lassen sie die Gesichter und Ereignisse in der Sowjetunion lebendig werden: „Merkwürdig und unverständlicher wird aber ein solcher Angriff, wenn er eine Frau trifft. Nicht nur die Beleidigte wird den Kaufpreis ihres Hütchens zum Vergleich mit dem mutmaßlichen Preis des Tuches zum Besten geben, auch ihre Nachbarinnen werden ihre Erfahrungen vorbringen. Dabei geht es allerdings nicht ohne Gelächter ab, nie und niemals habe ich ein Straßenbahngespräch ohne dieses schallende Beiwerk erlebt.“

Im Januar 1933 reiste Angela Rohr nach Berlin und verstand endgültig, dass sie und ihr Mann von nun an im Exil lebten. Die Moskauer Reportagen und Berichte aus dem ländlichen Russland, von der kasachischen Steppe über die Wolgagebiete bis in verlassene sibirische Flussebenen, markieren den Umschlag in die Diktatur auch in der Sowjetunion. Angela Rohrs Texte wandelten sich mit der sie umgebenden Welt. Hier wie dort tat sich eine Distanz auf und wurde zur Form. 

Eine der spätesten Erzählungen der Antologie, die Meistererzählung „Beschlagnahmtes Eigentum“ von 1936, porträtiert eine Atmosphäre der totalen Angst: „Jetzt, in dieser Kälte und um diese Tageszeit – es begann bereits etwas zu dämmern – war die Straße leer von allen ihren Möglichkeiten. Die Frau schritt schnell dahin, nur nicht genug für die Kälte, die sich immer enger um sie schloß.“ Auf dem Weg in ein vermeintlich besseres Leben in Moskau, kehrt die Protagonistin vor der Abreise noch einmal zurück in ihr Haus: „So lag sie offenen Auges da, aus der Leere stiegen einzelne Bilder auf, die sie veranlassen wollten, den Kampf um das Wachsein aufzugeben, andere aber, die sich mit jenen schreckhaften Inhalten abgaben, und sie am Einschlafen hinderten. Die Glut fiel in dem Ofenloch unter ihr zusammen, das gab ein kurzes, heißes Erschrecken, aber sie wußte fast sofort, um was es sich handelte. Die Kakerlaken knisterten leise an den Wänden und danach, wie sie auch dieses Geräusch verstanden hatte, schlief sie ein.“ 

Vor Erbarmen über die Kälte lässt die junge Frau in der Nacht ihrer Angst zum Trotz einen frierenden Fremden ein und als es wieder klopft, fürchtet sie um ihr Leben, während der Jäger die Klopfenden ins Visier nimmt: „Hausfrau, jetzt schieße ich!“ Konnte sie ihm denn die Erlaubnis dazu geben? Hat man denn schon gehört, daß ein Mörder darum bat, sein Opfer erschießen zu dürfen? Mawra sagte endlich wie von Sinnen: „Schieße!“ Scharf hintereinander knallten zwei Schüsse, denen ein dritter, gleichsam schwächer und kürzer, nachfolgte. Sie sprang von dem Ofen herab, um Luft zu gewinnen, und fiel dabei fast über den Jäger. Ihre Gesichter waren ganz nahe aneinander geprallt. Mawra wußte natürlich nicht, wie ein Mörder auszusehen hatte, aber dieser Mann hier schien ebenso viel Angst zu haben wie sie selbst.“ 

„Zehn Frauen am Amur“ enthält neben politischen Berichten auch Anmerkungen der Herausgeberin Gesine Bey, unter anderem zur Berichterstattung aus der Sowjetunion von Walter Benjamin bis Joseph Roth. 

Vor rund 77 Jahren, 1941, wurde Angela Rohr gefangen genommen, verurteilt und wenig später aus einem Gefängnis in Saratow in das „Besserungsarbeitslager“ Nischnij Tagil gebracht. Den sibirischen Gulag überlebte sie, weil ihre Fähigkeiten als Ärztin gebraucht wurden, und blieb danach in Moskau. 

Ihre späteren autobiografischen Schriften „Der Vogel“ und „Lager“ zeigen eine Frau, die, 1,51 Meter groß gewachsen, nicht sich und nicht andere unter lebensfeindlichsten Bedingungen verriet. 

Die Texte geben nicht nur Menschen ein Gesicht, fördern nicht nur das Verstehen einer Epoche. Sie erinnern auch daran, dass die antastbare Würde des Menschen damit zu tun hat, für was sich wer von nah oder fern aktiv oder passiv einsetzt. Wir sind beeinflussbar von unserer Umgebung, das ist gut so, nur müssen wir uns dessen bewußt sein. Die Kraft dieser Seltenen, Einzelnen kann uns im sich wieder beschleunigenden Fluss der Dinge lenken, dabei unterstützen zu widerstehen und dagegen helfen, uns antasten zu lassen.

 

Von Fabiane Kemmann

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