Jörn Haese: Der Ruhestörer aus Deutschland ist wieder da

Der Randberliner Jörn Haese, gelernter Hotelfachmann, nimmt mit Mitte 40 ein Studium in der russischen Provinzstadt Orjol auf und geht der Leitung seiner Universität offenbar kräftig auf die Nerven, weil er ständig auf Missstände aufmerksam macht und keine Ruhe gibt, wenn die nicht behoben werden. Im Sommer 2017 weist man ihm die Tür. Aber Haese klagt sich mit Erfolg zurück, gewinnt Ende Januar auch die Berufungsverhandlung. Lesen Sie hier die Fortsetzung des MDZ-Interviews mit ihm. Einen Link zu Teil 1 finden Sie im Text.

Die Staatliche Universität Orjol muss Jörn Haese, den sie eigentlich loswerden wollte, als Studenten zurücknehmen. © Tino Künzel

Herr Haese, stimmt es, dass Sie in der Nähe Ihres Studienorts auf eigene Initiative Landschaftspflege betrieben haben?

Zehn Kilometer nördlich von Orjol gibt es drei künstliche, stufenförmig angelegte Seen, die ich für mich entdeckt habe. Da fahre ich hin, wenn ich meine Ruhe haben möchte, zum Lesen. Ein wunderschönes Fleckchen mit glasklarem Wasser und Schilf, beliebt als Naherholungsgebiet. Leider bleibt dort erschreckend viel Müll zurück. Also habe ich mir Plastiksäcke gekauft, ihn eingesammelt und mit dem Auto weggefahren, jedes Mal 15 Stück. Das hat dann das Fernsehen erfahren und einen Beitrag gedreht.

Am 1. September 2015 hat Ihr Wirtschaftsstudium an der Uni in Orjol begonnen. Ihr erster Eindruck?

Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich den Stundenplan in die Hand bekam. Darauf fanden sich Fächer wie Kulturologie, Rhetorik, BSchD und auch Sport mit drei Wochenstunden, davon eine Stunde Theorie im Hörsaal.

BSchD?

Besopasnost schisnedejatelnosti, also Zivilschutz. In dem Fach haben wir berechnet, wie groß ein Fenster für eine bestimmte Raumgröße sein muss, damit ausreichend Licht ins Zimmer fällt. Es ging auch um Lärmbelastung und radioaktive Strahlung. Ich fand es absurd, dass man so etwas im Wirtschaftsstudium unterrichtet. Das kann man fakultativ in Abendkursen anbieten und dafür von mir aus auch Punkte vergeben, so dass die Teilnahme honoriert wird. Aber Wirtschaft  – das ist Mikroökonomie, das ist Wirtschaftstheorie. Solche Fächer hatten wir überhaupt nicht. Es hieß, die ersten beiden Studienjahre seien allgemeine Grundlagen, die Spezialisierung komme später.

Was war das denn zum Beispiel für Grundlagenwissen? 

Im Fach Mathematik und Computerwesen haben wir Pascal gelernt, eine uralte Programmiersprache, die kein Mensch mehr braucht. Ein halbes Jahr haben wir Programme geschrieben. Das Lehrbuch war von 2008, der Professor hatte es selbst verfasst. Andere gab es nicht.

Vom Hör- in den Gerichtssaal: Ein Deutscher verliebt sich in die russische Provinz – und eckt an

Welche Erfahrungen haben Sie mit den Lehrmethoden gemacht?

Die bestanden aus Vorlesen und Zuhören. Das hat mich irritiert. Nehmen Sie Philosophie, ein Standardfach, bei dem sich die Inhalte nicht von einem Jahr zum nächsten ändern. Da kann man den Stoff wunderbar durch Präsentationen vermitteln, durch Bildmaterial, durch Audio- und Videotechnik. Dann prägt sich das alles auch viel besser ein.

Den Geschichtsunterricht hat bei uns eine Dame gehalten, die 90 Minuten auf ihrem Platz saß und nur vom Blatt abgelesen hat. Mir fehlte das Interaktive, das Fragen, das Diskutieren, das Erörtern des Themas. Ich kam mir vor wie in der Schule. Alle haben in ihre kleinen grünen Heftchen fleißig mitgeschrieben. Ich hatte Hefter für unterrichtsbegleitendes Material dabei. Aber davon konnte ja keine Rede sein.

Da sind Sie aktiv geworden.

Ich habe mir das ein paar Tage angeschaut. Dann bin ich nach Hause und habe aus dem Internet die Lehrpläne für Wirtschaftswissenschaften von bekannten Universitäten ausgedruckt. Elf Stück. TU Dresden, Humboldt-Uni, Sorbonne und so weiter. Damit bin ich zum Dekan und habe ihn gefragt: Warum sind die alle so anders als das, was wir hier in Orjol haben? Wir saßen anderthalb Stunden zusammen. Es hieß, man verstehe mich ja, könne aber nicht viel machen. Das Ministerium in Moskau schreibe die Lehrpläne im Großen und Ganzen vor. Man habe da kaum Spielraum. Das war die Antwort. Dabei blieb es auch.

An der Uni von Orjol studieren nach eigenen Angaben 19.000 Studenten aus 55 Ländern. © orelvuz.ru

Sie haben sich dem Unvermeidlichen gebeugt?

Ich habe überlegt, was man noch tun kann. Nach zwei Monaten habe ich ein Schreiben aufgesetzt. Fünf A4-Seiten mit acht Punkten, was mir in dieser Zeit aufgefallen ist und warum ich das für nicht effektiv halte. Dazu Vorschläge, wie man das ändern könnte. Diesen Brief habe ich im Sekretariat der Rektorin abgegeben. Eine offizielle Antwort darauf gab es nie. Ich bin dann allerdings von einer Prorektorin angerufen worden, ich möchte doch bitte mal vorbeikommen. Sie sagte mir, man sei ja schon ein bisschen empört, was ich mir als Student so herausnähme, könne mir aber ein auf meine Bedürfnisse zugeschnittenes Programm für drei Jahre anbieten, also ein Jahr weniger als die reguläre Studiendauer. Diese Sonderbehandlung habe ich abgelehnt.

So machte ich also weiter, schloss das erste und zweite Semester ab. Aber Wirtschaft hat mich immer weniger interessiert. Ab Herbst 2016 habe ich an der Fakultät für Fremdsprachen am Unterricht teilgenommen, die gilt als eine der stärksten an der Uni. Für Französisch hat man da einen Muttersprachler, das gibt es auch nicht überall. An drei Abenden in der Woche habe ich daneben noch Staats- und Verwaltungswesen studiert und diesen Kurs letztlich mit einem Diplom abgeschlossen.

Keine Angst vor großen Namen

Jörn Haese hat es sich bereits so manches Mal mit Autoritäten verscherzt, weil die der Auffassung waren, er gefährde den Haus­frieden. Der Deutsche scheute sich nämlich noch nie, von ihm erkannte Fehler im System ziemlich unverblümt zu kommunizieren. Das dürfte der Universität in Orjol sehr bekannt vorkommen – russlandspezifisch ist es nicht.

Das Burj al Arab. © jumeirah.com

Während seines Studiums an einer Schweizer Hotelfachschule wurde er zum Praktikum ans weltberühmte Hotel Burj al Arab nach Dubai geschickt. Dort fertigte er eine sogenannte SWOT-Analyse an und hatte für die Arbeitsbedingungen nicht nur Lob übrig. Daraufhin wollte die Hotelleitung nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Auch bei seiner Arbeit in der Finanzabteilung des Oberhauses des britischen Parlaments habe er seinerzeit „Ungereimtheiten“ angesprochen, so Haese. Das Ende vom Lied: „Man hat mich vom Hof gejagt.“

Wir wissen bereits, dass die Uni Sie am Ende des besagten Studien­jahres exmatrikuliert hat (siehe Teil 1 des Interviews). Der nächste Krach ließ also offenbar nicht lange auf sich warten.

Anfang 2017 hat man einen Studenten, der mir bei der Vorbereitung auf Prüfungen im Staats- und Verwaltungswesen helfen wollte, plötzlich nicht mehr zu mir ins Wohnheim gelassen, was mit einer Quarantäne wegen Grippe begründet wurde und mit einer entsprechenden Anweisung aus dem Rektorat. Als ich mich beschwert habe, war der Aushang kommentarlos von heute auf morgen verschwunden und die Quarantäne aufgehoben. Dafür hat man kurz darauf die Besuchszeiten eingeschränkt: Auswärtige hatten nun nur noch von 12 bis 14 Uhr und von 17 bis 20 Uhr Zutritt zum Wohnheim. Nach dem Terroranschlag vom April 2017 in der St. Petersburger Metro ging man noch einen Schritt weiter: Jetzt durften außer uns selbst nur noch unsere nächsten Angehörigen ins Wohnheim, also meine Eltern, aber nicht mehr die Kommilitonen, mit denen ich tagsüber zusammen studierte. Da habe ich mir gedacht, das kann ja wohl nicht angehen, und mich an die Staatsanwaltschaft gewandt, damit die den Vorgang prüfen. Von deren Seite wurde auch der Verbraucherschutz eingeschaltet. Die Uni hat auf nichts reagiert, sich mit denen auseinanderzusetzen, hatte keinen Sinn mehr. Ich habe stattdessen fünf E-Mails an das Bildungs­ministerium nach Moskau geschickt: zu den hy­gienischen Zuständen im Wohnheim (ausführlich im ersten Teil des Interviews), zu den Zutrittsbeschränkungen. Mitstudenten haben mir mit den Übersetzungen ins Russische geholfen, aber mich auch gewarnt: Jörn, das ist nicht gut, du kriegst Ärger mit der Uni.

Was hat Ihnen das Ministerium geantwortet?

Dort hat man meine Mails an die Uni weitergeleitet und sich mit der Stellungnahme der Rektorin Olga Pilipenko begnügt. Die hatte nun alle Fakten auf dem Tisch. Sie kannte mich von zwei Gesprächen in ihrem Büro. Es wäre das Einfachste gewesen, mich mal anzurufen. Sie hätte sich selbst ein Bild von den Verhältnissen im Wohnheim machen oder zumindest jemanden vorbeischicken können, der sich vor Ort eine Meinung bildet: Ist das wahr, leben die Studenten wirklich so? Stattdessen hat sie dem Ministerium geschrieben, dass das Wohnheim regelmäßig an gesamtrussischen Wettbewerben teilnimmt und teils vordere Plätze belegt. Deshalb könne man sich nicht erklären, wo die Bilder von den sanitären Anlagen entstanden seien. Zitat: „Wir glauben, dass Herr Haese mutwillig die Fakten verdreht.“

Und Sie?

Ich habe ihr einen Brief geschickt, dass sie mir eine Entschuldigung schuldet. Davor bin ich mit meinem Freund und Dolmetscher Iwan nach Moskau zum Ministe­rium gefahren, um die Dame zur Rede zu stellen, deren Unterschrift unter dem Antwortschreiben stand. Sie hat uns auch empfangen. Ich habe sie gefragt, wie es sein kann, dass man eine Beschwerde an die Instanz zurückverweist, die für die Situa­tion verantwortlich ist, und den Fall damit zu den Akten legt. Warum wurde nichts unternommen, um der Sache nachzugehen? „Haben Sie denn nicht die Verantwortung, sich um das Wohl der Studenten zu kümmern? Oder wohnen Sie auch so?“ Schweigen. Am 13. Juni 2017 hat mir die Universität dann meinen Rauswurf mitgeteilt.

Gesammelte Korrespondenz und Unterlagen aus dem Gerichtsprozess, in dem Jörn Haese seinen Rauswurf aus der Uni anfocht und Recht bekam. © Privat

Dagegen sind Sie vor Gericht gezogen und haben zuletzt auch in zweiter Instanz Recht bekommen. Sie können also weiterstudieren. Aber wollen Sie das unter den gegebenen Umständen überhaupt?

Wissen Sie, ich habe in jüngster Zeit auch einigen russischen Me­dien Interviews gegeben. Die Resonanz war überwältigend. Bei Lenta.ru (große Internetzeitung) hat man nach drei Tagen die Kommentarfunktion für den Artikel deaktiviert, bis dahin waren weit über 500  Kommentare aufgelaufen. In einem stand: „Dieser Mann hat sofort die russische Staatsbürgerschaft verdient.“ Ich hätte dieses Feedback niemals erwartet. Viele haben mir auch Nachrichten auf VKontakte geschrieben, teils sehr persönliche und rührende. Ich habe Einladungen aus ganz Russland bekommen, vom Kaukasus bis zum Ural. Man hat juristischen Beistand angeboten, finanzielle Hilfe, sogar Wohnungen in Moskau, die man mir zu Verfügung stellen könnte.

Der generelle Tenor war: Es wurde Zeit, dass mal einer den Mund aufgemacht hat. Die Lage ist überall nicht rosig, nicht nur in Orjol. Die Lehrpläne sind veraltet, die Wohnheime sehen fürchterlich aus. Ich habe angefangen, den Finger in die Wunde zu legen, da kann ich mich jetzt nicht einfach aus dem Staub machen. An der Uni weiß man inzwischen, dass mit mir nicht gut Kirschen essen ist. Ich denke nicht, dass man mir dort noch Probleme bereiten will.

Haben Sie schon Ideen, mit denen Sie wieder als Ruhestörer auffallen könnten?

Mich beschäftigt schon seit längerem folgender Gedanke: Man müsste in Orjol eine Studentenstadt aufbauen – direkt im Stadtzentrum, wo die alten Fabrikanlagen seit 20 Jahren verrotten. Früher war das ein Industriestandort, doch heute liegt alles brach. Dafür ist die Luft jetzt sauber. Und es gibt ja nach wie vor viele kluge Leute. Es gibt die Professoren, es gibt mehrere zehntausend Studenten. Orjol hat gut 300.000 Einwohner, so viele wie Bonn. Da sage ich mir: Lasst uns doch hier mal die Weichen anders stellen und ein Musterbeispiel dafür schaffen, was auch in der russischen Provinz möglich ist. Man muss dafür nur die richtigen Leute finden, die in die Jugend, in die Zukunft investieren wollen.

Wer könnte das sein?

Ich habe bereits 2016 die 17 reichsten Russen angeschrieben. Auf der Forbes-Liste waren damals 99 russische Dollar-Milliardäre verzeichnet. Also habe ich die Herren von Platz 1 bis Platz 17 genommen und sie in Briefen ersucht, sich zu engagieren. Ohne Kapital sieht eine Universität tatsächlich alt aus. Im Westen hat man schon lange begriffen, wie wichtig Endowment ist. Es wäre doch schön, wenn von den Oligarchen jeder eine Mil­lion Dollar gibt. Leider hat sich bis heute keiner dieser 17 gemeldet.

Planen Sie, einige der Einladungen, von denen Sie gesprochen haben, anzunehmen?

Unbedingt! Ich werde einer Einladung folgen von einem orthodoxen Jugendinternat in Jaroslawl, wo der leitende Erzieher mich mit seinen Zehnt- und Elftklässlern zusammenbringen möchte. Aus Moskau hat mir eine Frau geschrieben und gefragt, ob ich mich mit ihren Kindern unterhalten könnte. Sie backe dafür auch gern eine Torte. Für den Sommer bereite ich eine ausgedehnte Reise vor: Dann kommt nämlich Emilio aus Mexiko, den ich mal in Deutsch unterrichtet habe, zur Fußball-Weltmeisterschaft nach Russland. Wir werden uns ins Auto setzen und kreuz und quer durchs Land fahren, auch zwei WM-Spiele in Moskau und Jekaterinburg sehen, sofern es mit den Eintrittskarten klappt. Diese Tour will ich nutzen, um Menschen, die mir geschrieben haben und mehr oder weniger an der Strecke wohnen, zu besuchen.

Das, was Ihnen als Student in Orjol widerfahren ist, hat Ihre Einstellung zu Russland nicht verändert?

Nein. Bestimmte Widrigkeiten, die einem das Leben erschweren, gibt es überall. Das will ich nicht überbewerten, sondern diese Dinge  einfach sauber und ordentlich hinter mich bringen und dann nach vorn schauen. Was ich viel mehr bedauere, ist die Tatsache, dass das Leben so kurz ist. Was sind schon 80 Jahre? Und selbst die erreicht nicht jeder. Dabei könnte und müsste man so viel machen …

Das Interview führte Tino Künzel.

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