Ein kleines Dorf mitten in Sibirien. Knapp 300 Einwohner. Eine Durchgangsstraße, der breite Jenissej, ein Dorfladen, ein Dorfklub. Hier ist Familie Staschkunas zu Hause. MDZ-Autorin Peggy Lohse hat sie besucht und einen Alltag erlebt, der so gewöhnlich wie außergewöhnlich ist.
Ende März ist der Jenissej, einer von Russlands mächtigsten Strömen, an seinem Mittellauf noch von einer dicken Eisschicht bedeckt. Wie lange es wohl noch dauern wird, bis das Eis aufbricht, damit irgendwann auch der Fährverkehr zwischen den Ufern wieder einsetzt? Das frage ich meinen Sitznachbar im sibirischen Regionalbus. Der antwortet zuversichtlich:„Wenn es jetzt so warm bleibt, dann vielleicht in einer Woche. Warum wollen Sie das wissen, kommen Sie vom Ufer da drüben oder sind Ihre Liebsten dort?“ Ich muss lachen. Warm, das heißt tagsüber um die zwei bis drei Grad. Und nein, ich komme nicht vom anderen Jenissej-Ufer.
Völkerwanderung von Stalins Willen
Anatolij Petrowitsch Staschkunas ist 75 Jahre alt und ein echter Typ. Sein Zuhause ist Ust-Tunguska, ein Dorf knapp 300 Kilometer nördlich von Krasnojarsk direkt am Ufer des Jenissej und an der Fernstraße von der Millionenstadt nach Lesosibirsk, einen Standort der Holzverarbeitungsindustrie, und Jenissejsk, ein ehemals bedeutendes Handels- und Kirchenzentrum. Staschkunas liebt ausgefallene Geschichten, veräppelt gern seine Mitmenschen und ist dabei so kreativ und überzeugend, dass die meisten immer wieder darauf hineinfallen. Mich stellt er als „verloren geglaubte Tochter“ aus Deutschland im Ort vor. Ich muss mich zusammenreißen, um die Geschichte nicht zu zerstören, denn man glaubt sie ihm. In sibirischen Familiengeschichten ist scheinbar alles möglich.
Staschkunas ist Litauer, man könnte seinen Namen also auch Staskunas oder Staškūnas buchstabieren. Er wurde bereits in Sibirien geboren, nachdem man seinen Vater in den 1940er Jahren unter Stalin aus der Litauischen Sowjetrepublik hierher verbannt hatte – als „Volksfeind“. Drei große Deportationswellen gab es zwischen Juni 1941, als Hitlers Überfall auf die Sowjetunon unmittelbar bevorstand, und Stalins Tod 1953 aus Litauen und den anderen baltischen Staaten nach Sibirien. Zahllose Litauer wurden ins Krasnojarsker Gebiet verbracht, häufig in den damals noch sehr dürftig erschlossenen Norden und in die Taiga. Insgesamt über 130 000 Menschen waren betroffen, darunter viele Bauern.
Auch Staschkunas’ Vater war Bauer, der Sohn ist es heute ebenfalls. Die Familie landete zunächst im Dorf Kulakowo, mitten im Nirgendwo der Taiga zwischen Jenissej und Angara. Da habe es, so Staschkunas, viele Verbrecher und Banditen gegeben. Aber man habe sich eben arrangiert. Erst vor 13 Jahren zog die Familie nach Ust-Tunguska – da ist wenigstens die Fernstraße und vieles einfacher zu erreichen. Auch für die Kinder.
„Haben alles, was wir brauchen“
Staschkunas besitzt einen Hof an der nördlichen Ortsausfahrt. Stolz zeigt er mir sein einstöckiges Wohnhaus aus Holz sowie eine überdachte und eine offene Garage, eine kleine und eine große Werkstatt sowie ein Pferdegatter. Neben dem Haus befinden sich die Ställe und eine kleine Ofenküche, in der die Kartoffeln und Kraut für die Tiere gekocht werden und die sie mit Wärme versorgt, zum Beispiel den Wachhund oder die Handvoll Milchkühe. Staschkunas füttert die Kühe, ich die Pferde. Das Gemüse stammt von einem Nachbarn. Staschkunas selbst verkauft Eier, Milch, Quark und manchmal Käse.
„Wir haben nicht viel, aber alles, was wir brauchen“, ist Staschkunas zufrieden. „Die Nachbarn sind neidisch und versuchen, mir Steine in den Weg zu legen. So wie die ‚Wachsamen Bauern‘ während der Entkulakisierung damals. Man könnte sagen, man will auch mich heute noch ‚entkulakisieren‘!“ Es ärgert ihn, aber er lacht dabei. Er will sich nicht als Opfer fühlen, wehrt sich, engagiert sich. Und sagt: „Irgendwem ist man immer ein Dorn im Auge. Damit muss man klarkommen!“
Bei den Staschkunas ist aber auch sonst ständig etwas los. Anatolijs knapp 15 Jahre jüngere Frau Larissa hat alle Hände voll zu tun. Da kommt erst die Nachbarin Jelena vorbei, um Eier und Milch zu besorgen, und bleibt noch auf ein Schwätzchen zum Tee. Dann ruft die Cousine aus der Dorfmitte an und informiert über die neuesten Produkte im Lebensmittelladen „Sewerjanka“. Ein zerkratzter rothaariger Dorfkater schleicht um die Beine, auf der Suche nach etwas Wärme, Schlaf und vielleicht einem Stückchen Fleisch vom Mittagstisch. Und dann kommen auch schon die Kinder aus der Schule.
Es ist immer Leben in der Bude
Die eigenen Kinder der Staschkunas-Eltern sind schon lange erwachsen. Sie wohnen in Lesosibirsk und Krasnojarsk. Auch ein Pflegesohn lebt bereits mit seiner eigenen Familie in der Stadt. Vier weitere Pflegekinder sind aktuell auf dem Hof. Sie alle besuchen die nächste allgemeinbildende Schule in einem größeren Dorf 40 Busminuten entfernt. Die zwei „Großen“ Natascha und Kirill sind 16 Jahre alt und stehen kurz vorm Schulabschluss. Kirill strebt eine Ausbildung zum Koch an, Natascha ist noch unschlüssig – vielleicht Frisörin? Die „Kleinen“ Anna und Ilja sind Geschwister und gehen in die 5. Klasse. Sie kamen erst im Herbst letzten Jahres in ihre neue Pflegefamilie.
Russlandweit konnten im Jahr 2015 von rund 50 000 neu als elternlos registrierten Kindern 20 000 in Pflegefamilien vermittelt werden. Das zeigt die Statistik des Online-Portals Usynovite.ru des Bildungsministeriums. Unter den Pflegekindern sind Vollwaisen und auch Kinder, deren Eltern das Sorgerecht entzogen wurde.
Die Staschkunas sind eine solche Pflegefamilie. Zwischen ihnen und dem zuständigen Jugendamt des Kreises wurde für jedes Kind ein Vertrag abgeschlossen. Zuvor wurden die potentiellen Pflegeeltern von der Behörde besucht, ihre Einkommens- und Lebensverhältnisse geprüft. Sie wurden zu Gesprächen gebeten und erhielten eine kurze Schulung zum Umgang mit den künftigen Pflegekindern. Aber selbst die intensivste Vorkontrolle und Beratung können keine Gewähr bieten, dass anschließend alles glatt läuft.
Mutter Larissa erinnert sich: „Der kleine Ilja ist total durchgedreht. Er hat noch am ersten Abend nach seiner Ankunft den Fernseher eingeschmissen und ein Notebook zerbrochen. Es ist immer schwer, denn man weiß ja nie wirklich, was vorher mit den Kindern passiert ist. Aber da war ich doch kurz davor, die beiden wieder ins Kinderheim zurückzubringen.“ Sie macht eine kurze Pause. „Egal, wie viel Erfahrung man schon mit eigenen Kindern oder anderen Pflegekindern gemacht hat, es lässt sich nicht vorhersagen, was mit einem neuen Kind aus dem Heim auf dich zukommt. Darauf kann man sich einfach nicht vorbereiten.“ Das könnten weder die Kinder noch die Erwachsenen.
Ein halbes Jahr später ist Ilja fast genau so still wie seine Schwester Anna. Beide schauen mit einem sehr skeptischen Blick in die Welt. Die Aggressionsausbrüche sind Vergangenheit. Denn jetzt wird Ilja gebraucht. Wie die älteren Geschwister helfen er und Anna auf dem Hof, füttern die Tiere, misten die Ställe aus. Und erst, wenn dann nach den Schulaufgaben abends noch Freizeit übrig ist, können sie mit den wenigen anderen Jugendlichen durchs Dorf stromern. Am anderen Ende des Ortes zeigt mir Anna ein Grill-Café. Aber das sei teuer, sagt sie. Dann lieber zum Jenissej oder zum Wald. In den Wintermonaten hat die kleine Feriensiedlung „Sajmka“ am Ortsrand sogar eine Rutsche aus Schnee für die Gäste und die Kinder im Ort gebaut.
Die Familie geht über alles
Larissa Staschkunas schaut doch auch stolz auf die Kinder, während die konzentriert ihre Schularbeiten machen. „Für viele ist heute die eigene Karriere wichtig. Aber für mich war und ist immer klar: Ich bin für meine Familie da. Für meinen Mann, meine Kinder, den Hof. Erst dann kann ich noch ab und zu etwas dazuverdienen, ein bisschen arbeiten“, erzählt sie mir. „Ich habe früher bei einer Firmenmensa als Köchin gearbeitet. Dann war ich viele Jahre hier in Ust-Tunguska im Dorfladen. Manchmal helfe ich da auch noch aus, aber nicht regelmäßig.“ Larissa ist ganz Hausfrau. Kaum zehn freie Minuten hat sie am Abend, die sie dann oft vor einem beliebigen Fernsehprogramm verbringt. Mit ihren großen, aber müden Augen schaut sie in Richtung Bildschirm und seufzt. Die Kinder machen sich derweil bettfertig. Beide Mädchen und beide Jungs teilen sich jeweils ein Zimmer – ungeachtet der Altersunterschiede.
Das flache Holzhaus ist überall für die Kinder eingerichtet: Schuhe, Jacken, Schulbeutel stehen im Flur in einer Reihe, Handtücher und Zahnbürsten umrahmen das kleine Waschbecken in der Küche. Immer wieder brauchen vor allem die Kleinen neue Sachen. Rund 1500 Rubel, umgerechnet etwa 20 Euro, Unterstützung gibt es pro Monat und Kind für die Pflegefamilie.
Zu Anatolij Staschkunas sagen die Kinder Papa, zu Larissa Mama. Die Ansagen und Bitten wirken auf mich als Außenstehende manchmal rau, dafür aber klar. Die Kinder reagieren sofort: Holz hacken, Tiere füttern, Freizeit, Essen, Waschen, Schlafen. „Die Lehrer haben mir gesagt, dass Natascha ruhiger geworden ist. Früher hat sie wohl viel gestört im Unterricht, aber jetzt übernimmt sie mehr Verantwortung.“ Larissa seufzt noch einmal in sich hinein: „Manchmal ist es nicht leicht mit den Kindern. Aber am Ende sind es doch alles unsere Kinder.“ Wie in einer ganz normalen Familie eben.