Die drei Leben der Jelena Bonner

Im Sacharow-Zentrum* wurde die Ausstellung „Das Leben war typisch, tragisch und wunderbar. Das Jahrhundert der Jelena Bonner“ eröffnet. Wie man am Titel der Ausstellung sehen kann, ist sie dem 100. Geburtstag der Menschenrechtlerin und Ehefrau des Akademikers Andrej Sacharow gewidmet. Das ist die letzte Ausstellung im Sacharow-Zentrum, Ende April muss es diese Räume verlassen.

Die Ausstellung über Jelena Bonner ist ein Abschied von dem Ort. (Foto: Ljubawa Winokurowa)


Fünfundzwanzig Jahre lang diente das kleine Anwesen und der Anbau im Zentrum Moskaus, am Semljannoi Wal, als Begegnungszentrum für alle, die mit dem Vater der Wasserstoffbombe, dem späteren Dissidenten und Menschenrechtler Andrej Sacharow, und seiner Frau Jelena Bonner bekannt waren oder seine Ansichten teilten. Diesen Ort wird es nicht mehr geben.

Bitte, raus!

Die Abteilung für städtisches Eigentum setzte das Sacharow-Zentrum über die Auflösung der Mietverträge für alle Räume in Kenntnis. Das Zentrum verliert das Hauptgebäude, den Ausstellungsraum und die Wohnungen in dem Haus am Semljannoi Wal. Der Kündigungsgrund sind Änderungen im Gesetz über die ausländischen Agenten, die im Dezember vergangenen Jahres in Kraft traten. Das Sacharow-Zentrum ist seit 2014 ausländischer Agent. Nach den neuen Änderungen dürfen ausländische Agenten keinerlei staatliche Unterstützung erhalten.

Alle Räume des Zentrums wurden kostenlos von der Stadt zur Verfügung gestellt. Die Ausstellung zum 100. Geburtstag Jelena Bonners ist die letzte. Sowohl die Mitarbeiter als auch die Gäste halten das für einen eigenwilligen Abschied, und so ist es auch. In dem riesigen Gästebuch und auf einer speziellen Tafel kann man seine Wünsche niederschreiben, wie das Zentrum in Zukunft aussehen sollte. Wahrscheinlich wird es wohl eher virtuell existieren. Aber es gibt noch keine konkreten Pläne. Die Mitarbeiter retten die Archive und denken da­rüber nach, wo man die ständige Ausstellung unterbringen könnte.


Drei Adjektive, die das Leben beschreiben

Aber kehren wir zur letzten Ausstellung zurück. Die Konzeption ist recht einfach, im Ausstellungssaal hängen Banner mit Fotografien Jelena Bonners und ihr Lebenslauf. Zwei Fernseher zeigen ein Interview. „Das Leben ist gewöhnlich, tragisch und wunderbar“, mit diesen Worten beschreibt Bonner ihr Leben (sie starb 2011, ihren Mann hatte sie um 22 Jahre überlebt), und sie wurden als Ausstellungstitel verwendet. Des Weiteren sagt sie im Interview, dass sie drei Leben gelebt hätte. „Im ersten Leben waren die Kindheit, die zarte Liebe einer Heranwachsenden, Gedichte, das Waisendasein, Tänze, der Krieg, Tod. Das zweite Leben brachte die Geburten, das Glück einer Frau, Freude am Beruf. Das dritte Leben war Andrej. Wie in einem alten Märchen trafen sich zwei Seelen, gingen völlig ineinander auf. Die Vereinigung aller Leben in einem!“

Die Biographie als Blockbuster

Jelena Bonner hatte ein interessantes und hartes Leben. (Foto: Das Sacharow-Zentrum*)


Das Leben Jelena Bonners könnte man verfilmen (in den USA hätte man das schon längst getan, aber wir sind ja nicht in den USA), denn ihr Leben war ungeheuer tragisch, aber auch glücklich. Sie wurde in Turkmenistan geboren, die Mutter war Jüdin, der Vater Armenier. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr wurde sie von ihrem Stiefvater Gework Alichanjan erzogen, der wichtige Parteiämter innehatte. Er wurde verhaftet und 1938 erschossen.

Die Mutter Jelena Bonners schickte man als Familienmitglied eines Vaterlandsverräters für acht Jahre in ein Lager. Ruth Bonner wurde vor den Augen ihrer Tochter verhaftet. Die ganzen acht Jahre unterstützte Jelena ihre Mutter, schickte ihr und anderen unschuldig verurteilten Frauen Päckchen. Nach der Verhaftung der Eltern kamen Jelena und ihr jüngerer Bruder zur Großmutter nach Leningrad. Um die Großmutter wenigstens ein wenig zu unterstützen, verdingte sich Jelena nach Beendigung der Schule als Putzfrau. Sie absolvierte ein Abendstudium an der Fakultät für russische Sprache und Literatur. Sie wollte eigentlich an der Fakultät für Journalistik studieren, doch dort nahm man sie wegen „falscher Herkunft“ nicht.

In den Jahren des Krieges war Jelena Bonner als Krankenschwester in einem Sanitätszug tätig. Nach einem Luftangriff war sie verschüttet, was den teilweisen Verlust ihres Augenlichts zur Folge hatte. Ihr Leben lang versuchte sie, das auszukurieren. Nach dem Krieg studierte sie Medizin. Sie ging in das irakische Kurdistan, wo sie eine Gruppe von Krankenschwestern und Medizinstudenten unter sich hatte, die Pockenimpfungen verabreichten. Sie arbeitete als Ärztin in einer Geburtsklinik in Bagdad. Jelena war mit einem Kommilitonen verheiratet, in der Ehe wurden zwei Kinder geboren. Die Ehe zerbrach jedoch sehr bald.

Treffen mit Andrej Sacharow

In den 1960er Jahren interessiert sich Bonner für die Tätigkeit der Menschenrechtler, unterstützt die Teilnehmer des „Prager Frühlings“ aktiv, fährt zu den Gerichtsprozessen gegen Dissidenten. Auf einer dieser Reisen traf sie Andrej Sacharow. Sie ist 49, er 50 Jahre alt, sie verlieben sich heftig ineinander. Und diese Liebe hält sie in den schwersten Jahren der Verbannung Sacharows nach Gorki, der Hetzkampagne in den sowjetischen Medien gegen Sacharow und Bonner, der Repressalien gegen Bonners Kinder (sie wurden exmatrikuliert und reisten letztendlich in die USA aus) aufrecht. Das Ehepaar durchlitt das alles.

Sacharow hat das neue Russland nicht mehr erlebt. Aber Bonner setzte alles daran, eine Institution der Verteidigung der Menschenrechte im neuen Russland zu entwickeln. Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern von „Memorial“ (das heute liquidiert ist), bestand auf der Eröffnung der Sacharow-Zentren in Moskau und Springfield (Washington County). In welcher Form jetzt das Andenken an Sacharow bewahrt werden wird, ist unklar. Jelena Bonner wäre gewiss sehr aufgebracht.

Ljubawa Winokurowa

*Das Sacharow-Zentrum wurde 2014 in das Register der ausländischen Agenten aufgenommen. Im Jahr 2022 wurde es auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt.

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