Die Zukunft vorhersagen? In Russland sei ja selbst auf die Vergangenheit kein Verlass, hat der Satiriker Michail Sadornow einmal gesagt. Er spielte darauf an, dass an der eigenen Geschichte je nach politischer Konjunktur herumgedoktert wird, damit sie zur gerade vorherrschenden Weltsicht passt. Russland, so Sadornow, sei ein „riesiges Land mit einer unberechenbaren Vergangenheit“.
Wie schwierig muss es dann erst sein, Voraussagen für die Zukunft zu treffen? Versetzen wir uns für einen Moment 100 Jahre zurück. Eine Umbruchzeit, der Zar ist abgedankt, die bürgerliche Regierung gestürzt, in Russland tobt ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der neuen und der alten Ordnung. Hätte sich jemand am Beginn des Jahres 1920 vorstellen können, wie sich die Lage auf Sicht von zehn Jahren entwickeln würde?
Kriege, Hunger, NEP
Im Bürgerkrieg setzen sich nach verheerenden Kämpfen bis 1922 die „Roten“ durch, obwohl die „Weißen“ unter General Denikin zwischenzeitlich nur noch wenige hundert Kilometer vor Moskau stehen. Im Polnisch-Sowjetischen Krieg läuft es umgekehrt: Die sowjetrussische Arbeiter- und Bauernarmee wähnt sich kurz vor der Einnahme Warschaus und erleidet dann doch eine Niederlage. Die Hoffnung auf ein schnelles Übergreifen der Revolution auf andere Länder erfüllt sich nicht.
Zieht man in Betracht, dass der Erste Weltkrieg 1914 begann, befindet sich das Land acht Jahre hintereinander im Ausnahmezustand. Nicht immer und überall wird gekämpft, doch die Auswirkungen sind im gesamten Land zu spüren. Die Wirtschaft liegt am Boden, die soziale Lage ist dramatisch. In den Jahren 1921 und 1922 fordert eine furchtbare Hungersnot die unglaubliche Zahl von drei Millionen Menschenleben (manche Angaben gehen weit darüber hinaus), vor allem im Wolgagebiet und im Ural.
Banditentum grassiert, auf dem Land treffen heimgekehrte Kämpfer beider Lager nach dem Bürgerkrieg wieder aufeinander und müssen sich irgendwie arrangieren, mit ihrer Kirchenpolitik und dem Klassenkampf machen sich die Bolschewiken neue Feinde, vielerorts kommt es auch zu Streiks. Erst mit der umstrittenen „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) Lenins, die den Kriegskommunismus ablöst und wieder privatwirtschaftliche Elemente zulässt, beginnt sich das Land allmählich zu berappeln.
Unumstritten ist dieser Kurs dabei beileibe nicht, viele empfinden ihn als Abkehr von der Lehre. Es gibt Kritik in der Parteiführung und an der Basis. Doch vor allem die Versorgungslage bessert sich spürbar. Und bei allen Widerständen: Die Sowjetmacht hat einen Großteil der Menschen hinter sich und mit der Bodenreform alles richtig gemacht, auch wenn Lenin Anfang der 20er Jahre konstatiert, zahlreiche Menschen hätten bisher nicht das Gefühl, dass es ihnen besser ginge als vor der Revolution.
Die Welt schaut hin
1928 wird der erste Fünfjahrplan beschlossen. Das Agrarland Sowjetunion verordnet sich damit eine beispiellose Industrialisierung. Die „Goldenen Zwanziger“ im Westen mögen nur eine ferne Ahnung sein, doch auch im Osten nimmt das Leben neue Züge an. Es herrscht, zumindest weit verbreitet, Aufbruchstimmung, in den Städten boomt die Kultur. Die Intelligenz wird gebraucht und lässt sich für die Idee einer gerechteren Gesellschaft begeistern. Noch ist der ideologische Druck vergleichsweise gering, sind die Grenzen fließend. Man steht im Austausch mit dem Westen, und von dort schauen viele wenn nicht mit Sympathie, dann doch mit Faszination auf das sowjetische Experiment. Jessenin und Majakowskij, Ilf und Petrow in der Literatur, Eisenstein im Film, Tatlin, Wesnin und Melnikow in der Architektur, Schuchow und sein Radioturm in der Technik – sie genießen Weltruf.
Und heute? Ist Russland viel westlicher als damals, viel offener, aber ist es auch Inspiration für die Welt? Ein Modell, ein Vordenker? Oder nur ein Gegenpol, an dem man sich reibt, ein Land am Rande Europas, das seinen eigenen Weg gehen möchte, ohne selbst so recht zu wissen, worin der besteht?
Widersprüche könnten sich zuspitzen
Im neuen Jahrzehnt könnte Russland vor allem nach innen gerichtet sein. Dabei gibt es durchaus Parallelen zu den 1920er Jahren. Denn der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft ist nach wie vor groß. Und so, wie sie seinerzeit auf den Ruinen des alten Systems errichtet wurde, mit radikalen Mitteln und fragwürdigen Ergebnissen, so wächst nach den glücklich überstandenen postsowjetischen „Hungerjahren“ jetzt die Nachfrage nach Mitsprache und Beteiligung. Wie sich nicht zuletzt bei den Umweltprotesten der jüngsten Vergangenheit gezeigt hat, schauen immer mehr Menschen über den eigenen Tellerrand hinaus und verstehen, dass ihr Wohlergehen eng mit dem Wohlergehen ihres Ortes und ihrer Gegend verknüpft ist. Sie sind bereit, sich zu engagieren, stoßen aber in einem System, das noch nicht einmal das Parlament eigenständige Entscheidungen von Belang treffen lässt, geschweige denn Verantwortungsträger in den Regionen, schnell an ihre Grenzen.
Bisher hat der Staat keine Antwort darauf, wie er mit Initiative von unten umgehen soll, wenn sie kritisch und unbequem ist. Dann heißt es meist: abdrängen, diskreditieren, isolieren, bestrafen. Sollte der Politik nichts Besseres einfallen, dürften die Widersprüche sich weiter zuspitzen.
Damit verbunden ist die Frage einer realen Selbstverwaltung, die den Regionen ermöglicht, wichtige Befugnisse in die eigenen Hände zu nehmen – und auch die Mittel zu ihrer Verwirklichung erwirtschaften und behalten zu können. Dass das größte Land der Erde von Moskau aus durchregiert wird, ist längst ein Anachronismus und Bremsklotz bei der Entwicklung. Es droht nicht gleich der Zerfall des Reiches, wenn Gouverneure und Bürgermeister mehr Gestaltungsspielraum erhalten.
Wohlstandstransfer in die Regionen
Offenbar bereits in den obersten Zirkeln der Macht angekommen ist die Erkenntnis, dass das Wohlstandsgefälle zwischen Moskau und den Millionenstädten einerseits und der Provinz andererseits viel zu groß ist. In den letzten Jahren haben speziell Sibirien und der Ferne Osten gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren, benachteiligte Regionen werden gezielt gefördert und Steuereinnahmen entsprechend umverteilt. In jüngster Zeit findet auch ein Transfer von Moskauer Know-how bei Infrastruktur, Verkehr und der Aufwertung des öffentlichen Raumes statt. Leider ist Moskau nur bedingt Vorbild, was den Wohnungsbau betrifft. Es wird immer noch in die Höhe gebaut statt mit menschlichem Maß. Die „Mikrorajons“ aus Sowjetzeiten sind weiterhin nicht vom Tisch. Dass hier über kurz oder lang ein Umdenken stattfindet, ist aber sehr wahrscheinlich.
Die absurde Konzentration von Menschen in wenigen Städten bei einer im Ganzen so geringen Bevölkerungsdichte ist ein Paradox, das zu den größten in Russland gehört. Ein Programm für die 2020er Jahre müsste deshalb unbedingt wirksame Maßnahmen gegen die Landflucht enthalten und es im Gegenteil attraktiv machen, aufs Land zu ziehen. Würde hier eine echte Wende erzielt, wäre auf jeden Fall viel erreicht.
Michail Sadornow, der Satiriker, hat das neue Jahrzehnt nicht mehr erlebt, er starb 2017 an einer Krebserkrankung. In seinen Auftritten machte er sich mit Vorliebe über die Amerikaner lustig und liebte es zu betonen, er lebe im besten Land der Welt – und im schrecklichsten Staat. Seinen Landsleuten schrieb er zum Thema der gesellschaftlichen Entwicklung einmal Folgendes ins Stammbuch: „Um in einem zivilisierten Land zu leben, musst du nicht aus Russland emigrieren. Und erst recht keine Revolution anzetteln. Halte die Umwelt sauber, fluche nicht, fang an, dich an die Straßenverkehrsregeln zu halten, gib kein Schmiergeld und nimm keins an, trinke keinen Alkohol und rauche nicht, geh nicht fremd, achte die Kultur und lern die Geschichte des Vaterlandes, begegne den Alten mit Respekt. Und ehe du dich versiehst, findest du dich in einem zivilisierten Land wieder.“
Tino Künzel