Königsberg passte so gar nicht zum typischen Grundriss sowjetischer Städte, als es im Zweiten Weltkrieg an Moskau fiel und kurze Zeit später in Kaliningrad umbenannt wurde. Aber der Krieg hatte so viel Verwüstung hinterlassen, dass die neuen Stadtväter die Gelegenheit für günstig erachteten, beim Wiederaufbau gleich auch mit dem aufzuräumen, was früher mal war. Die Ruine des Königsberger Schlosses, dessen mächtige Außenwände noch standen, wurde 1968 gesprengt. Dort, wo der Deutsche Orden 1255 Wurzeln schlug und die Stadt ihren Anfang nahm, sollte nun – über dem einstigen Schlossgraben – ein Bau entstehen, der die neuen Zeiten symbolisierte. Die Abkehr vom „preußischen Militarismus“, wie man damals sagte, und der Aufbruch in eine lichte Zukunft. Klare Kante.
Fast fertig zum Ende der Sowjetzeit
Dieses Rätehaus hatte in Nikolai Konowalow, dem ersten Sekretär der regionalen Parteiorganisation, seinen glühendsten Verfechter. Er und seine Parteigenossen sollten in das 21-stöckige Hochhaus, bestehend aus zwei durch Übergänge miteinander verbundene Blöcke, einmal einziehen. Von dort hätten sie einen perfekten Blick auf den Zentralen Platz gehabt, eine riesige Freifläche, perfekt für Maidemonstrationen. Was konnte da eigentlich noch schiefgehen?
1970 war Baubeginn. Doch das Vorhaben stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Zu ehrgeizig die Pläne, zu wackelig der Untergrund, zu groß die Probleme bei der Materialbeschaffung. Es dauerte 20 Jahre, bis sich die Fertigstellung abzeichnete. Doch wieder hatte das Rätehaus kein Glück: In die Auflösungserscheinungen der Sowjetunion hinein interessierte sein Schicksal kaum noch. Und in den 1990er Jahren hatten selbst wohlmeinende Seelen einfach andere Sorgen.
Aufgehübscht zur 750-Jahr-Feier
So war dieses eigentliche Vorzeigeprojekt auf einem Filetstück Kaliningrad nun größtenteils sich selbst überlassen. Halbfertig und leer, bot es wirklich keinen schönen Anblick. Nur einmal kam so richtig Leben in die Bude. Als der Finne Mika Kaurismäki 2002 sein Roadmovie „Honey Baby“ drehte, da war ihm der abseitige Charme dieser zum Schandfleck verkommenen Sehenswürdigkeit gerade recht. Das Gemäuer diente als Schauplatz einer mehrminütigen Discoszene.
Ein paar Jahre später wurde aus dem schaurigen Ungetüm immerhin ein weißer Riese, zumindest äußerlich. Denn vor den 750-Jahr-Feierlichkeiten bekam das Rätehaus einen frischen Anstrich und erstmals Fenster spendiert. Man wollte sich schließlich vor der prominenten Gästeschar nicht blamieren.
Das bisschen Schminke war zwar besser als nichts, aber die Frage, was denn nun aus diesem Erbe der Sowjetzeit werden soll, damit nicht beantwortet. In dieser Hinsicht gingen die Meinungen weit auseinander. Die einen sprachen von einem Beton-Monster, völlig aus der Zeit gefallen und lieber heute als morgen aus dem Stadtbild zu entfernen. Andere argumentierten, auch das sei ein Stück Stadtgeschichte und erhaltenswert. Ohne die Bauwerke aus der Epoche des sowjetischen Modernismus gehe der rote Faden der Entwicklung verloren.
Nutzungspläne scheitern
2019 ließ sich die Regionalregierung unter dem damals erst 30-jährigen neuen Gouverneur Anton Alichanow den Rückkauf des Gebäudes aus Privathand 400 Millionen Rubel kosten. Geplant war eine Teilrekonstruktion, nach der endlich künftige Nutzer in dieses Sorgenkind einziehen könnten. Doch nur ein Jahr später fiel ein Gutachten ernüchternd aus. Die Konstruktion sei stellenweise baufällig, urteilte Gutachterin Irina Kusnezowa aus St. Petersburg. Je nach äußerer Einwirkung könne „alles einstürzen“. Eine Rekonstruktion sei zwar möglich, werde aber vier- bis fünfmal so teuer wie ein kompletter Neubau, und könne weitere 20 Jahre in Anspruch nehmen.
Der Gründer des Kaliningrader Automobilbau-Unternehmens Awtotor, Wladimir Schtscherbakow, ging sogar noch weiter. Niemand könne garantieren, dass das Haus nicht „wegen eines vorüberfahrenden Busses plötzlich in sich zusammenkracht“. Solch drastische Stimmen bewirkten ein Umdenken. Eine Rekonstruktion war nach den eindringlichen Warnungen fortan vom Tisch. Auch von der Idee eines Wiederaufbaus verabschiedete man sich peu à peu.
Mitte Mai hat nun die Demontage des Rätehauses begonnen. Es wird von oben nach unten abgetragen. Dafür sind 14 Monate veranschlagt. Eine Sprengung wurde wegen der zentralen Lage der Bauruine verworfen. Was einmal ihren Platz einnehmen soll, ist bisher unklar. Noch bis zum Sommer läuft ein Architektenwettbewerb. Gouverneur Alichanow hat öffentlich dafür geworben, nun erst einmal den Abriss abzuwarten. Vielleicht werde man durch den leeren Platz auf neue Gedanken gebracht. Im Übrigen, so Alichanow, habe auch die Leere ihre Reize.
Tino Künzel