Das Geschehen ist als „Verfassungskrise“ in die russische Geschichte eingegangen, doch einen viel euphemistischen Euphemismus kann man sich kaum vorstellen. Verfassungskrisen kosten normalerweise keine Menschenleben, schon gar keine 158 wie damals nach offiziellen Angaben in Moskau. Verfassungskrisen führen auch nicht dazu, dass mitten in einer europäischen Hauptstadt Panzer das Parlamentsgebäude beschießen. Aber im Russland des Jahres 1993 liegt vieles in der Luft, auch so ein schier undenkbares Szenario.
Jelzin stellt den Obersten Sowjet kalt
Mitten in das Chaos der ersten postsowjetischen Jahre hinein, in neue Freiheiten und alte Seilschaften, in Sinnsuche und Verarmung, löst Präsident Boris Jelzin am 21. September mit seinem berühmt-berüchtigten Erlass Nr. 1400 das Parlament auf, den Obersten Sowjet. Das sei gar kein richtiges Parlament gewesen, hört man teilweise bis heute, sondern ein Relikt der Sowjetunion. Die Abgeordneten hätten nichts Besseres zu tun gehabt, als Jelzin, dem Reformer, Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Doch auch das Verfassungsgericht urteilt, dass Erlass 1400 verfassungswidrig ist. Ein Staatsstreich, gerichtet gegen die zweite Säule der Macht. Daraufhin erklärt der Oberste Sowjet Jelzin für abgesetzt und ernennt Vizepräsident Alexander Ruzkoj zu seinem Nachfolger. Aber Jelzin denkt gar nicht daran, sich den Ewiggestrigen und Bremsern, für die er sie hält, zu beugen. Er hat dabei die Regierung, Polizei und Armee auf seiner Seite.
Das Weiße Haus als Fixpunkt
Der Sitz des Obersten Sowjets ist das sogenannte Weiße Haus unweit der Moskwa, vis-à-vis des Hotels Ukraina, des Neuen Arbats und des früheren RGW-Gebäudes, eines Hochhauses, das wegen seiner Form auch als „Buch“ bekannt ist. Jelzin lässt das Weiße Haus abriegeln, er kappt den Abgeordneten Strom und Wasser. Fast zwei Wochen geht es hin und her, dann ziehen Demonstranten vom Oktoberplatz zum Weißen Haus, um die Blockade zu beenden. Aus dem ehemaligen RGW-Gebäude, wo nun die Moskauer Stadtverwaltung ihren Sitz hat, werden sie von OMON beschossen. Die Lage eskaliert.
Als die Menge sich Zugang zum Weißen Haus verschafft und die Eingeschlossenen befreit hat, darunter auch „Präsident“ Ruzkoj, wendet der sich vor Mikrofonen ans Volk. Er ruft zum Sturm der Stadtverwaltung und des Fernsehzentrums in Ostankino auf. Man will vor die Kameras, will die Massen mobilisieren. Doch in Ostankino kommt es zu einem Feuergefecht, mindestens 46 Menschen sterben im Kugelhagel, darunter auch ein Kameramann der ARD.
Ein Sieg für den Präsidenten mit hohem Preis
Boris Jelzin verhängt den Ausnahmezustand. Am Morgen des darauffolgenden Tages lässt er aus Panzerkanonen auf die obersten Etagen des Weißen Hauses feuern, wo sich niemand befindet. 1700 Soldaten rücken auf das Gebäude vor, während zahlreiche Schaulustige von der nahen Brücke über die Moskwa dem bizarren Schauspiel beiwohnen. Die allermeisten Toten werden am Ende solche Unbeteiligten sein, Zufallsopfer, zur falschen Zeit am falschen Ort, wenn auch teilweise aus freien Stücken.
700 Menschen verlassen das Weiße Haus an diesem 4. Oktober. Einige werden angeklagt, später amnestiert. Jelzin hat sich durchgesetzt, er bekommt seine neue Verfassung, die dem Präsidenten bedeutend mehr Vollmachten einräumt. 1996 gewinnt Russlands erster frei gewählter Präsident mit Mühe seine zweite Wahl, 1999 macht er überraschend den Weg frei für Wladimir Putin.
Heute will es im Rückblick so scheinen, dass die Ereignisse vom Herbst 1993 vor allem eine Tragödie waren. Es konnte gar nicht so viel auf dem Spiel stehen, als dass dieses Blutvergießen zu rechtfertigen gewesen wäre. Und der Panzerbeschuss des Weißen Hauses war ein ganz schlechtes Beispiel dafür, wie weit ein Präsident, der sich Demokratie auf die Fahnen geschrieben hat, gehen kann. Seit 1993 hat Russland nun ein Zwei-Kammern-Parlament aus Duma und Föderationsrat. Dass es dem Präsidenten die Stirn bietet, ist praktisch ausgeschlossen.
Tino Künzel
Michael Jackson, Luschniki und eines der nassesten Konzerte der Musikgeschichte
Für so manchen Moskauer hatte das denkwürdigste Ereignis des Herbstes 1993 bereits am 15. September stattgefunden. An jenem Mittwoch trat Michael Jackson im Luschniki-Stadion auf – eine Sensation, an die bis zuletzt keiner so recht glauben wollte. Und fast wäre das Konzert des damals 35-jährigen Superstars im Rahmen seiner „Dangerous“-Tour auch tatsächlich kurz vor dem geplanten Beginn geplatzt. Es goss nämlich in Strömen, es war kalt und das Stadion noch nicht überdacht. Außerdem hatte Wunderheilerin Dschuna dem „King of Pop“ prophezeit, er werde auf der Bühne ausrutschen und sich die Wirbelsäule demolieren. Doch Jackson enttäuschte die 80.000 Menschen in der Arena nicht. Allerdings produzierte das Konzert höchst kuriose Bilder: Während er sang, krochen Helfer mit Bettlaken um ihn herum, um das Wasser aufzuwischen.
Jackson schrieb „Stranger in Moscow“, während er sich in der russischen Hauptstadt aufhielt, und kam drei Jahre später wieder. Luschniki wurde mit der Zeit herausgeputzt, war 2008 Finalort der Champions League und 2018 der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland.