Soziologe Gudkow: Kritik des Sowjetmenschen

Denen, die durch die sowjetische Schule gegangen sind, wird gerade in Russland oft nachgesagt, aus besonderem Holz geschnitzt zu sein: hilfsbereit, selbstlos, hohen moralischen Standards und immateriellen Werten verpflichtet. Der Soziologe Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, beschreibt den Sowjetmenschen jedoch ganz anders. Was er bei einer Diskussion aus der Reihe „Homo Sovieticus: 100 Jahre Sowjetmensch“ der Jegor-Gaidar-Stiftung und des Jüdischen Museums sagte, lesen Sie hier.

Auch im heutigen Russland steckt noch viel Sowjetunion. © wallpaperscraft.ru

Lassen Sie uns für den Anfang ein wenig charakterisieren, was wir meinen, wenn wir vom Sowjetmenschen sprechen. Wir beschäftigen uns damit schon seit mehr als 30 Jahren. Erstmals haben wir 1989 ein Forschungsprojekt dazu aufgelegt. Unsere Vorstellung war, dass der Sowjetmensch in den frühen Jahren der Sowjetmacht geformt wurde, als die sowjetischen totalitären Institutionen entstanden sind. Einerseits ist er ein Postulat, ein Projekt, andererseits das Material, aus dem das totalitäre Regime gemacht wurde. Vereinfacht gesagt geht es um die Generation, die etwa Anfang der 20er Jahre das Licht der Welt erblickte und geprägt wurde vom harten, repressiven, terroristischen Regime, das sich etablierte. Sie hat dieses System getragen. Und als sie aus demografischen Gründen abzutreten begann, fing das System an, auseinanderzufallen.

Die Idee war nun, dass immer mehr Leute gar nicht mehr wissen, was das heißt: sowjetisches Leben – grau, hoffnungslos, voller ideologischer Zwänge. Und dass sich damit auch das System ändert, wenn eine junge Generation mit völlig anderen Einstellungen die Bühne betritt – westlicher, toleranter, orientiert an Freiheiten, Menschenrechten, am Markt, mit anderen Lebensperspektiven.

Anfang der 90er Jahre hat sich das empirisch bestätigt, und wir wollten verfolgen, wie sich dieser Abgang der Sowjetgeneration vollzieht. Wir haben das alle 4-5 Jahre nach ein und demselben Schema, mit ein und denselben Fragebögen gemessen. Und es hat sich herausgestellt, dass bereits 1994 und erst recht 1999 die Hypothese vom Verschwinden des Sowjetmenschen nicht mehr zu halten war. Er reproduzierte sich. Das hat uns nachdenken lassen. Wie kommt es, dass er sich halten kann? Und was genau ist denn nun also ein sowjetischer Mensch?

Wenn man das Thema ausführlicher behandeln will, dann ist die Geschichte des Sowjetmenschen verbunden mit den futuristischen Ideen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, das ein Jahrhundert der Technik und der Rationalität werden sollte, mit neuer Moral und neuen Menschen mit völlig anderen Ansichten. Dieses futuristische Projekt haben die Bolschewiken aufgegriffen und in der Praxis aller institutionellen Systeme verwirklicht. Das Bildungswesen, das System der ideologischen Erziehung, das System der Organisation der Partei, des Staates, der gesellschaftlichen Institutionen – alle haben sie den neuen Menschen geformt.

Was dabei herausgekommen ist, hat bereits in späterer Zeit der deutsche Publizist Klaus Mehnert, ein Vertrauter von Adenauer, zu schildern versucht. Er wurde in Russland geboren, war der Enkel des Besitzers der Fabrik Einem (Anm. d. Red.: Moskauer Süßwarenhersteller, zu Sowjetzeiten in „Roter Oktober“ umbenannt) und wurde ein sehr bekannter Politologe und Journalist. Er reiste etliche Male in die Sowjetunion und schrieb auf, was er dort sah. 1958 erschien sein Buch „Der Sowjetmensch: Versuch eines Porträts nach zwölf Reisen in die Sowjetunion 1929 – 1957“. Danach gab es noch einige Arbeiten, aber sie waren entweder ideologisch oder parodierend angelegt, nicht empirisch.

Lew Gudkow gehört zu den namhaftesten Soziologen Russlands. © jewish.gaidarfund.ru

Unsere eigenen Studien haben ein relativ interessantes Bild ergeben: Der Sowjetmensch ist an den repressiven Staat angepasst und hat gelernt, in ihm zu leben. Er identifiziert sich mit dem Staat, denkt imperial, aber weiß auch, dass der Staat ihn trotzdem betrügt und ausnutzt, dass das ein System der Gewalt ist und man sich deshalb der Kontrolle entziehen muss. Es ist ein unaufrichtiger, zweideutiger Mensch, immer argwöhnisch, von den Brüchen, der Knochenmühle geprägt, die sein Leben durchziehen. Deshalb ist er ziemlich zynisch, innerlich aggressiv, vertraut nur seinen Nächsten, ist unfähig zu Anstrengungen auf lange Sicht, aber bereit zum Impuls, zum kurzfristigen Kraftakt.

Im Grunde geht es dem Sowjetmenschen ausschließlich ums reine Überleben. Das heißt ihn kümmert in erster Linie sein eigenes Auskommen und das seiner Familie, seiner Nächsten. Mit Moral hat das nichts zu tun, wenn unter Moral verstanden wird, was die europäische Kultur darunter versteht. Das Wort „Moral“ kann man ja auf verschiedene Weise lesen. Einerseits sind das jene Sitten, jene Formen der alltäglichen Existenz, die den Menschen umgeben. Anderer­seits ist es eine Art Fortsetzung der christlichen Tradition, bei der man das eigene Verhalten nicht zum persönlichen Umfeld, sondern zu gewissen höheren Sinnen und Bedeutungen ins Verhältnis setzt und es kontrolliert, ausgehend von der Endlichkeit des Lebens. Das ist eine völlig andere Konstruktion von Moral, die hier unbekannt oder zumindest absolut nicht charakteristisch ist. Für den sowjetischen, unaufrichtigen, heuchlerischen Menschen entsteht keinerlei Moral.

Übersetzung: Tino Künzel

Auf Russisch: http://jewish.gaidarfund.ru/articles/3253/tab1

 

Die gute alte Sowjetzeit

Eine Mehrheit der Russen bedauert auch im Jahre 2019 weiterhin den Zusammenbruch der Sowjetunion und macht dafür weniger deren Systemkrise in der ersten Hälfte der 80er Jahre verantwortlich als Gorbat­schows Versuch, das Land zu reformieren, in der zweiten. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Lewada-Zentrums. Dabei sollten die Befragten zu Ende denken, was wohl passiert wäre, hätte 1985 nicht die Pere­stroika begonnen. Populärste Antwortoption (38 %): Die Lebensverhältnisse hätten sich nach und nach verbessert. Viele Anhänger hat auch die These, schwere Konflikte und Erschütterungen hätten sich vermeiden lassen und die große Sowjet­union wäre erhalten geblieben. So denken 32 Prozent, wobei Mehrfachnennungen möglich waren.

Ein negatives Szenario für eine Sowjetunion ohne Perestroika können sich deutlich weniger Menschen vorstellen. Dass das Land trotzdem an seinen inneren Widersprüchen zerbrochen wäre, glauben nur 16  Prozent, dass es seine internationale Konkurrenzfähigkeit zunehmend eingebüßt und seinen Weltmachtstatus unweigerlich verloren hätte, halten 14 Prozent für wahrscheinlich.

Auf die Frage, ob sie es vorziehen würden, wenn alles so geblieben wäre wie vor der Perestroika, antworteten 48 Prozent mit ja oder eher ja und nur 39 Prozent mit nein oder eher nein. Die Gegenwart kommt dabei im Vergleich zur Sowjetunion der frühen 80er Jahre schlechter weg denn je: Immerhin 17 Prozent finden, es sei heute etwas oder viel schwieriger als damals, seine Meinung zu sagen. Das ist mit Abstand der Spitzenwert bei dieser Umfrage seit 1998.

Tino Künzel

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