Per Schiguli durch das sowjetische Erbe Moskaus

Haben Sie auch ein sonderbares Gefühl, wenn Sie in der S-Klasse an Stalinbauten vorbeifahren? Die Exkursion „Per Schiguli durch Moskau“ bietet ein wohl authentischeres Erlebnis. Schließlich wurde die Stadt von Sowjets für Sowjets geplant und gebaut.

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Dmitrij (l.) während der Exkursion auf dem Neuen Arbat / Anastassija Buschuewa

Unser Fahrer Dima, der gleichzeitig auch unser Stadtführer ist, versichert, dass wir dieses Mal das Auto nicht anschieben müssen. Ich und ein Moskauer Pärchen auf den Rücksitzen flitzen in seiner roten Blechkiste, Baujahr 1981, über die Mochowaja-Straße, vorbei an den Kremltürmen. Inmitten von ausländischen Automarken kommen uns fröhliches Hupen und lächelnde Passanten entgegen. Wir biegen in die modernisierte Twerskaja-Straße ab.

Dmitrij Gawrilow begann seine Auto-Exkursionen nur durch Zufall. Seinen Schiguli, der im Ausland auch einfach als Lada bekannt ist und die offizielle Modelbezeichnung VAZ-2106 trägt, kaufte er mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne. Damit bereiste er die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes, woraus ein Dokumentarfilm entstanden ist. Eine Exkursion durch Moskau im nostalgisch-sowjetischen Auto war erst scherzhaft für seine Freunde gedacht. Aber dann zwang ihn der Wechsel der Jahreszeiten, die Unternehmung zu verschieben. „Mit dem Schiguli kann man nicht im Winter fahren. Sie rosten sehr und fallen dann schnell auseinander“, erklärt er und streckt seine Hand aus dem Fenster. Der Blinker funktioniert nicht, deshalb muss er wie ein Fahrradfahrer ein Handzeichen geben, bevor er abbiegt.

Während Dimas Freunde den Frühling abwarteten, landete er mit seinem Post im Internet über die Stadtrundfahrt einen viralen Hit.  Heute wird die Tour „Per Schiguli durch Moskau“ sogar auf Deutsch und Rnglisch angeboten. Einen festen Preis hat die Rundfahrt nicht – jeder gibt, so viel er möchte. Unsere Autofahrt ist gleichzeitig eine Reise durch die Zeit: An den Fenstern ziehen konstruktivistische Häuser, monumentale stalinistische Bauten und eintönige Chruschtschowkas vorbei, wie die Wohnhäuser aus den 1950er-Jahren genannt werden. Dima vergleicht die Architektur mit seinem roten Schiguli und illustriert damit die Denkweise des Homo Sovieticus: „Das einzige Massenauto der 70er- und 80er-Jahre war der Schiguli. Sein Aussehen konnte sich etwas verändern, nicht aber das, wofür er steht. Ähnlich verhält es sich mit dem Wohnungsbau. Überall wurden Schlafstädte errichtet – die Moskauer konnten sich gar nicht vorstellen, das man auch anders hätte leben können.“

Im 20. Jahrhundert kam es zu einer regelrechten Landflucht. Massen von Menschen strömten in die Stadt. Zwei akute Fragen tauchten da auf: Wohin mit den Menschen und wie können sie zur Arbeit gelangen? Diejenigen, die das Aussehen Moskaus nachhaltig geprägt haben, waren der französische Architekt Le Corbusier und der englische Soziologe Ebenezer Howard. Ihnen zufolge sollte sich die Stadt in vier Zonen gliedern: Wohnstätte, Arbeitsort, Parks und Straßen. Die Überlappung von Räumen wurde kategorisch abgelehnt. Mit anderen Worten, man wohnt an einem Ort, und zu allen anderen Orten fährt man mit dem öffentlichen Nahverkehr. Unserem Stadtführer zufolge ist dieses System schon veraltet. „Das ist so, als ob wir jetzt in einer Megastadt Aquädukte nutzen würden“, erklärt Dima und blinkt einem zu forschen Autofahrer entgegen.

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Er gilt als das Kultauto der Sowjetunion – der Lada „Schiguli“ von Dimitrij, Baujahr 1981, ist definitiv ein Hingucker vor der tristen Betonkulisse / Anastassija Buschuewa

Weil wir gerade im Stau stehen, betrachten wir das Erbe der UdSSR aus Beton genauer. Dima erzählt, dass das Moskau der 70er-Jahre versprochen hatte, ein idealer Ort für den sowjetischen Menschen zu sein, denn alle bekamen kostenlose Wohnungen in den neu entstandenen Vierteln. Das Moskauer Pärchen auf der Rückbank nickt zustimmend. „Aber genau in dieser Zeit tauchten Gruppen von Banditen auf, die die nagelneuen Schlafstädte in Ghettos verwandelten“, führt Dima fort, ohne diesen Gedanken auszuführen. Wir parken vor dem alten Gebäude des Versicherers SOGAZ auf dem Gartenring. Vor uns befindet sich eine Grünanlage, die das massive Gebäude von der Hauptverkehrsstraße trennt. Sitzbänke gibt es hier nicht, dafür aber Tannen. „Kommt es jemandem in den Sinn, hier Zeit zu verbringen?“, fragt Dima. „Wohl kaum. Allerdings braucht die Stadt so viele Parks und Grünanlagen wie nur möglich. Schließlich atmet sie dank des Sauerstoffes, den uns die Pflanzen liefern. Aber städtische Grünzonen sind nicht wirklich nutzbar, denn häufig werden sie zu kriminellen Territorien. In der UdSSR waren Parks häufig gruselige Orte“, erzählt er. „Wir erwarten, dass hinter der nächsten Tanne gleich ein Alkoholiker hervorspringt. Aber es ist an der Zeit, dass wir umdenken“, sagt Dima.

Eine lebendige Stadt entstehe nur dort, wo es kompakte Quartale gibt, die mit attraktiven Räumen gefüllt sind: Cafés, Geschäften, Sitzbänken und Orten, an denen sich Menschen verständigen können. Leere Orte verwandelten sich dagegen in Slums. Eine gesunde Stadt lebe von  einer vielfältigen Nutzung, sinniert Dima. Zur unterschiedlichen Tageszeit sollten unterschiedliche Menschen in die Stadt kommen und sie mit Leben füllen. Die Kehrseite sind dann die Bettenburgen außerhalb des Zentrums: sowjetische Wohnkomplexe schieren Ausmaßes seien nicht an die Bedürfnisse des Menschen angepasst.

„Moskau kann bald schon auf eine Vielzahl von Problemen stoßen, die es lösen muss“, sagt unser Stadtführer gedankenverloren. Die moderne Rekonstruktion der Stadt hält er für eine Reaktion auf die Proteste, die sich in Moskau zwischen 2011 und 2012 ereignet haben. Doch gerade am spannendsten Punkt endet unsere Exkursion. Es ist Zeit, aus dem gemütlichen Schiguli zu klettern. Zum Abschied brummt uns der Motor entgegen und der rote Schiguli flitzt wieder in den Verkehrsstrom hinaus. Für ihn und die Exkursion beginnt jetzt wegen der niedrigen Temperaturen die Winterpause.

Anastassija Buschuewa

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