Operation Zauberstab: Wie in Russland Abtreibungen der Kampf angesagt wird

In Russland werden immer weniger Kinder geboren. Das passt schlecht zum Bild eines Landes, das sich mit traditionellen Familienwerten von seinen westlichen Nachbarn abgrenzen will. In den Mittelpunkt der innenpolitischen Diskussion gerät nun zunehmend das ungeborene Leben.

Mit himmlichem Beistand: Kreißsaal in Kaliningrad (Foto: Igor Sarembo/RIA Novosti)

Wenn in Russland über Abtreibungen gestritten wird, spielen moralische oder gar religiöse Gesichtspunkte nur eine sehr untergeordnete Rolle. Auch wenn sich die Familienpolitik an „traditionellen Werten“ orientieren soll, steht bei der Diskussion um ein verstärktes Vorgehen gegen Schwangerschaftsabbrüche im Vordergrund, die demografische Krise zu überwinden.

Geburtenzahl auf Tiefststand

Laut dem staatlichen Statistikdienst Rosstat kamen in der ersten Hälfte dieses Jahres in Russland 616.000 Kinder zur Welt  – ein neues Rekordtief. In den ersten sechs Monaten des Vorjahres waren es noch 19.000 Kinder mehr gewesen. Überraschen konnten diese Daten nicht. Damit setzt sich lediglich ein anhaltender Trend fort. Rückläufig sind die Geburtenzahlen bereits seit geraumer Zeit und Jahr für Jahr. 2019 wurden noch knapp 1,5 Millionen Neugeborene gezählt, 2022 nur noch 1,3 Millionen.       

Vor diesem Hintergrund werden Schwangerschaftsabbrüche immer mehr zu einem der beherrschenden innenpolitischen Themen. Dabei klaffen die verwendeten Zahlen allerdings weit auseinander. So sprach Pjotr Tolstoi, der stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, unlängst von annähernd 1,5 Millionen Abtreibungen, die pro Jahr in Russland vorgenommen würden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind es dagegen höchstens 400.000, Tendenz sinkend.

Auch immer weniger Abtreibungen

Aussagekräftig ist hier eine historische Einordnung. 1990, kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion, waren in der Russischen Sowjet­republik laut Rosstat noch mehr als vier Millionen Schwangerschaftsabbrüche zu verzeichnen – das Doppelte der Geburtenzahl. Erst 2007 überstieg die Zahl der Geburten zum ersten Mal seit den 1950er Jahren die Zahl der Abtreibungen (92 Abtreibungen pro 100 Geburten).

Der namhafte russische Demograf Alexej Rakscha geht heute von 500.000 Abtreibungen pro Jahr aus. Und auch er bescheinigt Russland merklich sinkende Zahlen. Ein Abtreibungsproblem gebe es nicht mehr, so der Experte. Überwiegend handele es sich um Fehlgeburten oder medizinisch bedingte Eingriffe.

Dabei gehört Russland in absoluten Zahlen allerdings weiterhin zu den europäischen Ländern mit den meisten Schwangerschaftsabbrüchen. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 2022 rund 104.000. Russland hat 146 Millionen Einwohner, Deutschland 83 Millionen.

Einschränkungen, Verbote und Ideen

An Initiativen für restriktive Maßnahmen, mit denen die Situation zum Positiven geändert werden soll, fehlt es nicht. Es werden im Gegenteil von Tag zu Tag mehr. Im Oktober verschärfte das Gesundheitsministerium landesweit die Bestimmungen für den Vertrieb von Abtreibungsmedikamenten, obwohl deren Verfügbarkeit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ohnehin stark begrenzt war. Die Staatsduma erwägt derweil ein gesetzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in Privatkliniken. Ein solches Verbot gilt bereits in einigen Regionen des Landes.

Das kollektive Brainstorming, was noch unternommen werden könnte, hat schon die unterschiedlichsten Ergebnisse hervorgebracht. Der Duma-Abgeordnete Bijsultan Chamsaew (Einiges Russland) schlug Ende Oktober vor, abtreibungswillige Mütter finanziell zu einer Geburt zu motivieren, indem der Staat das Neugeborene „loskauft“ und es in staatliche Obhut nimmt. So solle das „Recht des Kindes auf Leben“ geschützt werden.

Chamsaews Parlamentskollegin Nina Ostanina von den Kommunisten hatte Mitte November eine ähnliche Idee. Man müsse Frauen, die abtreiben wollten, die Angst vor der Geburt nehmen, so Ostanina. So geborene Kinder könnten in Kinderheimen untergebracht werden, was immerhin der Demografie zugutekäme.

Der Abgeordnete Waleri Selesnjow (LDPR) plädierte auf Telegram dafür, Frauen, die in russischen Gefängnissen wegen leichterer Vergehen einsitzen, eine Art Hafturlaub zu gewähren. Sollten sie in dieser Zeit schwanger werden und bereit sein, das Kind auszutragen, könnte ihnen der Rest der Haft erlassen werden. Das sei immerhin besser als „mittelalterliche Verbote“, so Selesnjow. 

„Gebärfunktion“ vor Hochschulbildung

Ein großes Echo löste unterdessen ein Videointerview von Margarita Pawlowa aus, die im Oberhaus des russischen Parlaments, dem Föderationsrat, sitzt. Pawlowa erklärt darin, es sei falsch, wenn Eltern ihren Töchtern die Notwendigkeit eines Hochschulabschlusses einredeten. Das Diplom führe vielfach zu gar nichts, die anschließende Arbeitsstelle habe dazu oft keinerlei Bezug. Dafür gerate über den „langen Jahren der Selbstsuche“ aber die „Gebärfunktion“ ins Hintertreffen.

Pawlowa, die selbst einen Hochschulabschluss und drei Kinder hat, stellt auch einen Zusammenhang zur Oktoberrevolution von 1917 her. „Warum bekommen die Frauen weniger Kinder? Weil die Revolution ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten gegeben hat. Die Frauen sind massenhaft arbeiten gegangen und haben ihre weibliche Bestimmung vergessen: zu gebären, sich um das Heim zu sorgen.“ Frauen hätten aufgehört, Frauen zu sein, und „männliche Funktionen“ übernommen.

Frühere Geburten, mehr Kinder

Rhetorisch ungefähr vom selben Kaliber ist die Aussage der früheren Kinderrechtsbeauftragten und heutigen stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden Anna Kusnezowa, Frauen sollten ihr erstes Kind am besten im Alter von 19 oder 20 Jahren zur Welt bringen. Nur so seien kinderreiche Familien zu gründen. Die ehemalige Abgeordnete Inga Jumaschewa, heute Leiterin einer „Stiftung für die Erhaltung und Stärkung traditioneller russischer geistiger und moralischer Werte“, hatte zum Thema Abtreibung noch Kategorischeres zu sagen: „Der Sieg über den Faschismus in der ,militärischen Sonderoperation‘ ist unmöglich ohne den Sieg über den Faschismus im eigenen Land.“

Kirchenpatriarch Kirill sprach sich derweil bei einer Rede dafür aus, die „Verleitung zur Abtreibung“ landesweit unter Strafe zu stellen. In zwei Regionen ist das bereits Gesetz. Die Bevölkerung könne, so Kirill, „einfach wie mit dem Zauberstaub“ vergrößert werden. Gelinge es, Frauen von Schwangerschaftsabbrüchen abzubringen, werde sich das demografisch sofort bemerkbar machen. Er rief Glaubensschwestern dazu auf, das Gespräch mit solchen Frauen zu suchen, „demütig und vernünftig, ohne erhobenen Zeigefinger und Gruselgeschichten“.

Der internationale Vergleich

Aber stimmt es überhaupt, dass weniger – legale – Schwanger­schaftsabbrüche mehr Geburten bedeuten, zumal in Größenordnungen? Experten verweisen gern darauf, dass die niedrige Geburtenrate in erster Linie einer niedrigen Zahl an Schwangerschaften geschuldet ist, was seinerseits auch die Zahl der Abtreibungen nach unten gedrückt hat. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das Beispiel des katholischen Polens. Dort wurden Abtreibungen 1993 faktisch verboten. Dennoch hat Polen eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU.

Auch zwischen einer möglichst frühen Geburt des ersten Kindes und der Gesamtzahl der Kinder pro Familie besteht kein notwendiger Zusammenhang. In den Niederlanden, in Dänemark, Schweden oder auch Österreich sind Frauen durchschnittlich älter als in Russland, wenn ihr erstes Kind zur Welt kommt. Dennoch ist in diesen Ländern die Geburtenrate höher.

Sollten die diskutierten Maßnahmen nicht greifen, wird abzuwarten sein, ob sich die Regierung dann vielleicht auf bestimmte geburtenstarke Bevölkerungsgruppen stützt, um demografisch Wirkung zu erzielen. Hierbei gäbe es viel Raum für Fantasie. Wie dem auch sei, der russischen Gesellschaft steht in naher Zukunft ein interessantes Experiment bevor.

Filipp Fomitschow

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