Druck auf dem Kessel: Nostalgiezüge immer populärer

Dampflokomotiven sind in Russland noch häufig anzutreffen, doch meist stehen sie reglos auf Podesten und künden stumm von einer vergangenen Eisenbahn-Ära. In den letzten Jahren werden allerdings immer mehr restauriert und reaktiviert, um Ausflügler durch die Gegend zu kutschieren.

Nix Abstellgleis: Dampfloks erleben eine Renaissance. (Foto: Tino Künzel)

Als Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der Sowjetkommunisten im Februar 1956 ans Rednerpult trat, da rechnete er nicht nur mit dem „Personenkult“ um Josef Stalin ab. Neben der Entstalinisierung leitete der umtriebige Parteichef auch eine Wende im Bahnverkehr ein. Künftig werde auf moderne Antriebe wie Diesel und Strom gesetzt. Die Industrie stellte fortan keine Dampflokomotiven mehr her. Das hieß freilich nicht, dass die Kohleschlucker mit einem Mal ausstarben wie die Mammute. Im Bahnalltag blieben sie, ähnlich wie in der DDR, noch bis weit in die 1980er Jahre hinein ein vertrautes Bild.

Für viele sind die stählernen Kolosse eine liebgewordene Kindheitserinnerung. Gefühlt jeder zweite Knirps wollte damals Lokführer werden, denn das war eine Arbeit, die man sehen, riechen und sogar hören konnte. Das Aus auf Raten war unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten aber zwangsläufig. Dem niedrigen Wirkungsgrad stand ein hoher Wartungsaufwand gegenüber: Der Kessel musste zwischen zwei und vier Stunden lang angeheizt werden, bevor es überhaupt losgehen konnte. Eine Kesselreinigung war im Schnitt alle zwei Wochen fällig und nahm bis zu 16 Stunden in Anspruch.

Gegen einen gelegentlichen oder sogar regelmäßigen Ausflugsverkehr spricht das alles nicht. Bis vor ein paar Jahren waren es in Russland nur Eisenbahnmuseen, die für besondere Gelegenheiten auch fahrbare Exemplare bereithielten. Doch inzwischen setzt die Russische Bahn selbst mit jedem Jahr mehr Strecken wieder unter Dampf. Der Lok-Ruf erreichte beispielsweise eine sowjetische Dampflok des Baujahrs 1955, die seit 1988 als Industriedenkmal vor dem Bahnhof der Kleinstadt Scharja in der Region Kostroma gestanden hatte. 30 Jahre später wurde sie wieder flottgemacht und tauchte 2021 in der benachbarten Region Iwanowo auf. Dort verkehrt jedes Jahr Anfang Januar ein Nostalgiezug zwischen Iwanowo und der Stadt Schuja, wo ein mehrtägiges Festival unter dem Namen „Russische Weihnachten“ veranstaltet wird.

Solche „Zeitmaschinen“ rollen mittlerweile an den unterschiedlichsten Orten durch die Landschaft und erfreuen sich einer schnell wachsenden Beliebtheit nicht nur bei Bahnromantikern. Darunter die drei folgenden.

Ruskeala-Express

Der „Ruskeala-Express“ zuckelt Erlebnishungrige täglich von der Stadt Sortawala am Ladogasee zum Freizeitpark Ruskeala unweit der Grenze zu Finnland – morgens hin und abends wieder zurück. Für die knapp 40 Kilometer braucht er ungefähr eine Stunde. Aus dem Fenster gibt es vor allem Wälder und Sümpfe zu sehen, doch das Sehenswerteste ist ohnehin der Zug selbst. Die alten DDR-Waggons aus Ammendorf versprühen nach aufwendiger Restaurierung einen noch älteren Charme: Ihr Inneres ist an die Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert angelehnt. Im Speisewagen wird Klavier gespielt und als besondere Spezialität gelten die Piroggen mit Preiselbeere oder Forelle.

Der „Ruskeala-Express“ ist Zügen der Zarenzeit nachempfunden. (Foto: naparovoze.ru)

Eingeweiht wurde die einspurige Strecke am 1. Juni 2019. Das hat auch die Bekanntheit des 2015 eröffneten Freizeitparks Ruskeala vervielfacht. Wo er sich befindet, wurde mehrere Jahrhunderte lang Marmor ab- und in St. Peterburgs berühmtesten Gebäuden verbaut, darunter der Isaakskathedrale, der Kasaner Kathedrale und der Eremitage. Heute sind die mit Wasser gefüllten ehemaligen Steinbrüche und die Höhlen weit mehr als nur eine lokale Attraktion – auch dank des „Ruskeala-Expresses“, der wiederum eine Sehenswürdigkeit für sich ist. Sein Fahrplan ist eigens mit dem Fernverkehr verzahnt, so auch mit dem Zug Nr. 160 Moskau-Petrosawodsk. Er führt sogar Kurswagen zum Ruskeala-Park mit sich, die in Sortawala an den Express angehängt werden. Passagiere können dann auch die Annehmlichkeiten der Retrowaggons nutzen.

Ural-Express

An Wochenenden und Feiertagen verbindet der „Ural-Express“ die Millionenstadt Jekaterinburg an der Grenze von Europa und Asien mit dem Vorort Werchnjaja Pyschma. Der ist vor allem als Sitz von Russlands größtem Kupferhersteller UGMK bekannt.

Zwischen Abfahrt und Ankunft des „Ural-Expresses“ am 1878 fertiggestellten Jekaterinburger Hauptbahnhof liegen 6,5 Stunden. Die tatsächliche Fahrzeit in eine Richtung (26 km) beträgt dabei knapp anderthalb Stunden.

Ein bisschen Hogwarts am Ende von Europa: der „Ural-Express“ (Foto: Infoportal der Swerdlowsker Oblast)

Neben 3,5 Stunden Aufenthalt in Werchnjaja Pyschma legt der Zug auch an der jüngst herausgeputzten Station Schuwakisch eine längere Pause ein. Dort endet der elektrifizierte Teil der Strecke. Während ab Jekaterinburg eine tschechoslowakische Elektrolok aus dem Jahre 1963 die historisch angehauchten Waggons über die Gleise zieht, so übernimmt ab Schuwakisch eine Dampflok den Job. Dafür stehen fünf zwischen 1940 und 1950 in Dienst gestellte Exemplare zur Verfügung.

Freitags beziehungsweise am Vorabend von Feiertagen dreht derselbe Zug unter dem Namen „Abendliches Jekaterinburg“ eine 44 Kilometer lange Runde in der Stadt. Die Preise sind für beide Touren identisch und beginnen bei 1599 Rubel für Erwachsene in der einfachsten Klasse.

Seliger

Der erste reguläre russische Zug, vor den eine Dampflok gespannt wurde, hatte seine Premiere 2018. Eine gewöhnliche Nahverkehrslinie zwischen Bologoje, einer Stadt auf halber Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg, und Ostaschkow am Seliger-See, wird samstags und sonntags mit musealer Technik bedient. Die Lok ist Baujahr 1953, die grünen Zugwagen sind zwar aufgehübscht, aber großen Schick sollte man nicht erwarten. Mit solchem Gerät war die Russische Bahn bis zu einem Rebranding bestückt, das 2007 begann.

Nahverkehr der besonderen Art (Foto: VK)

Die Fahrzeit verlängert sich gegenüber Arbeitstagen um 45 Minuten auf 3,5 Stunden, dafür ist ein 30-minütiger Halt an der Station Kuschenkino mit ihrem Holzbahnhof von 1902-1906 nebst kostenloser Führung inbegriffen. In Ostaschkow sind über zwei Stunden Zeit für einen Bummel. Der Fahrpreis liegt bei 355 Rubel.

Die Abfahrtszeit in Bologoje (samstags 9.15 Uhr, sonntags 8.35 Uhr) wie auch die Rückankunft dort (17.35 Uhr/18.15 Uhr) lassen es zu, die Tour ab/bis Moskau an einem Tag zu bewältigen. Mit den Expresszügen Lastotschka und Sapsan dauert die An- und Abreise je zwei bis drei Stunden.

Tino Künzel

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