Zwölf Davide gegen Goliath

So etwas gab es noch nie: Seit Mitte Juni warnen ein Dutzend regionale Zeitungen vor „Propaganda“ in den staatlichen TV-Sendern. Anlass ist der Frontalangriff von NTW auf eine Handvoll kritischer Lokalmedien.

Von Bojan Krstulovic

Das Telezentrum Ostankino in Moskau, die Heimstätte der großen Sender / bk

Das Telezentrum Ostankino in Moskau, die Heimstätte der großen Sender / bk

Der schlechte Ruf des russischen Journalismus gründet hauptsächlich in der Arbeit der landesweiten Fernsehsender. Da sie unter staatlicher Kontrolle stehen, ist die Kritik an ihnen meist selbst politisch – die Sender werden als inoffizielles Sprachrohr des Kreml verstanden, mit dem dieser Stimmungen und Ansichten unter die Masse der Bevölkerung bringt, die zu radikal sind, um als offizielle russische Positionen gelten zu können. Das Fernsehen eignet sich für diese Funktion besonders gut, da es, anders als Zeitungen und Internetmedien, die meisten Russen erreicht und dazu traditionell das größte Vertrauen aller Medien genießt. Dem gegenüber stehen insbesondere Lokalzeitungen – meist zu Recht (siehe unten) – im Ruf, der Regionalpolitik kritiklos ergeben zu sein.
Seit einigen Wochen wächst jedoch der professionelle Widerstand gegen die dominierenden TV-Sender. Der Beitrag, wegen dem einer von ihnen nun ungewöhnlich starken Gegenwind erntet, wurde schon vor einigen Monaten ausgestrahlt, damals so gut wie unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Der TV-Kanal NTW sorgt mit seinem Investigativformat „Außerordentliche Begebenheit“, das berüchtigt ist für seine vermeintlichen Enthüllungen zu den Moskauer Kremlgegnern, immer wieder für Furore. Doch im März traf es einmal nicht die liberale Opposition, sondern Lokalmedien in den russischen Regionen. Seitdem haben sich diese miteinander solidarisiert und gehen inzwischen sogar zum Gegenangriff über.
Der Film „Die Schuldner des State Departments“ warf einer Handvoll als kritisch geltenden regionalen Medien vor, von einer US-Organisation Geld erhalten und dafür besonders kritisch über die russische Politik berichtet zu haben. Die Behauptungen des Films wurden schnell durch Klarstellungen der betroffenen Medien wie auch der implizierten NGO für Medienförderung „Media Development Investment Fonds“ entkräftet. Der berufene Rat für Pressebeschwerden, dessen Vorsitz der langjährige Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Wladimir Lukin innehat, urteilte hart: Der Film sei eine „erlogene Denunziation“ und stelle einen Angriff auf die seltenen unabhängigen Lokalmedien dar. Besonders kritisierte der Rat die unterschwellige Vermischung wichtiger Begriffe: Die „kritische“ Einstellung der Presse werde zur „oppositionellen“, wobei dieses automatisch mit „verräterisch“ gleichgesetzt werde. Eine derartige Verurteilung durch den Rat ist nichts Neues für die russischen TV-Sender und bleibt für sie erfahrungsgemäß folgenlos.
Weil NTW die Sitzungen des Presserats komplett ignorierte, platzte einem der im Film angegriffenen Medien der Kragen: Die Wochenzeitung „Jakutsk wetschernij“, mit einer Auflage von 60 000 eine der größten Zeitungen in der Republik Jakutien, druckte Ende Mai über ihr TV-Programm einen Warnhinweis: „Seien Sie vorsichtig! Die Fernsehsender lassen in ihren Informations-Sendungen oft verzerrte und falsche Aussagen zu. Öfter als bei anderen Kanälen wurde dies auf NTW und Rossija beobachtet.“ Dass neben NTW auch noch der Staatssender „Rossija“ erwähnt wird, liegt an einem anderen TV-Beitrag, in dem der Sender Ende April den jakutischen Gouverneur für die hohen Preise im regionalen Flugverkehr verantwortlich machte – zu Unrecht, wie die Zeitung meint.
Seitdem nimmt der Protest Fahrt auf. Ein Verband von Lokalzeitungen, die „Allianz der unabhängigen regionalen Herausgeber“ (ANRI), rief einen „Flash Mob“ aus und forderte andere Zeitungen zum Abdruck eines ähnlichen Hinweises auf, der ohne den Seitenhieb auf „Rossija“ auskommt. ANRI erwartet, dass sich insgesamt 200 bis 300 Zeitungen der Aktion anschließen werden. Der „Flash Mob der Zeitungen“ soll erst enden, wenn sich NTW entschuldigt hat – was allerdings niemand ernsthaft erwartet. Als die Warnhinweise Mitte Juni bereits in einem Dutzend Blättern erschienen, reagierte NTW erstmals auf die Kritik: In einigen Zeitungen erschienen unter dem Deckmantel des TV-Programms falsche Behauptungen, so der Konter des Senders.
Sollten sich noch mehr Zeitungen dem Protest anschließen, droht dem russischen Journalismus eine Schlammschlacht, befürchtet inzwischen der russische Journalistenverband. Er hatte den NTW-Film zuvor ebenfalls scharf kritisierte, ruft aber mittlerweile zur Mäßigung auf. Der Konflikt solle vor Gericht gelöst werden und nicht in aller Öffentlichkeit. Doch auch NTW hat seine Fürsprecher: Der stellvertretende russische Kommunikationsminister Alexej Wolin stellte sich hinter den Sender. Der erreiche bekanntlich ein viel größeres Publikum als die Lokalzeitungen, so Wolin, „woraus wir schließen, dass das Team von NTW erfolgreicher und professioneller ist“.

 

Info

Regionale Freiheiten

Das „Komitee für Bürgerinitiativen“ des russischen Chefliberalen Alexej Kudrin hat einen Index der kritischen Berichterstattung für die regionale russische Presse erstellt. In 15 Regionen des Landes finde überhaupt keine Kritik der Lokalpolitik statt (unter ihnen: Kaluga), in 13 so gut wie keine (darunter Moskau). Ein „niedriges“ Niveau der Kritik weisen etwa Tschetschenien und die Krim auf, ein „moderates“ Dagestan und St. Petersburg. Viel Kritik erlaubt man sich in sieben Regionen, darunter das Gebiet Iwanowo und als Spitzenreiter Karelien.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: