SIL: Es war einmal ein Autowerk

Früher wurde in Moskau vor allem am Stadtrand in großem Stil gebaut. Heute bietet der Abriss von Industriebrachen auch in zentrumsnäheren Bereichen die Chance, es besser zu machen als damals bei den Plattenbauvierteln. Die Neugestaltung des ehemaligen SIL-Fabrikgeländes nimmt dabei schon wegen der schieren Größe eine besondere Stellung ein.

Statt alter Werkhallen: Hier wird Moskau noch einmal neu gebaut. (Foto: Pressedienst der Stadt Moskau)

Es ist ein postindustrielles Phänomen: Wenn Großbetriebe schließen oder sogar ganze Industriegebiete verschwinden, nehmen innovative Kulturzentren, Landschaftsparks oder moderne Wohngebiete ihren Platz ein. Gelungene Beispiele für diese Transformation sind in Deutschland unter anderem im Ruhrgebiet und im Rheinland zu finden. Es sei hier an die Zeche Zollverein, den Phoenix-See und den Kölner Rheinau­hafen erinnert.

Dieser weltweite Trend hat längst auch Moskau erfasst. Die vor über zehn Jahren begonnene Revitalisierung des ehemaligen SIL-Geländes fünf Kilometer südlich des Kremls ist in ihren Dimensionen dabei einmalig. SIL, 1916 als Moskauer Automobilgesellschaft (AMO) gegründet, war später einer der bekanntesten Hersteller von Autos und anderen Kraftfahrzeugen in der Sowjetunion. Den Anfang machte das Lkw-Modell AMO-F-15, eine Nachbildung des italienischen Fiat-15 TER. Die Einzelteile wurden zunächst aus Italien importiert.

Vom Luxuswagen bis zum Kühlschrank

Der AMO-F-15 war die Grundlage für neue Modellreihen, die in den Folgejahren vom Band liefen. 1931 wurde das Werk in Stalinfabrik (SIS) umbenannt. Im Zuge der Entstalinisierung änderte es 1956 abermals seinen Namen und hieß nun nach dem kurz zuvor verstorbenen langjährigen Direktor Iwan Licha­tschow Sawod imeni Licha­tschowa – SIL. Von seiner Gründung bis in die Neuzeit, als nach dem Ende der Sowjetunion die Produktion dramatisch einbrach und 2013 endgültig eingestellt wurde, verließen das Werk 7,5 Millionen Lkw, 37.500 Busse und 12.200 Limousinen. Außerdem wurden 3,2 Millionen Fahrräder und 5,5 Millionen Kühlschränke hergestellt.

Besondere Bekanntheit erlangte SIL durch die Produktion von Nobelkarossen für die politische Führung. Im Straßenbild hatten sie zwar Seltenheitswert, waren dafür häufig bei Staatsempfängen oder Militärparaden auf dem Roten Platz zu sehen.

Zwei Teile eines Ganzen

Nach dem Aus musste dem Areal neues Leben eingehaucht werden. Insgesamt beläuft sich das Gelände auf über 400 Hektar. Damit ist das Stadtsanierungsprojekt nicht nur das größte seiner Art in Moskau und Russland, sondern europaweit.

So sah das Gelände im Sommer 2022 aus. (Foto: Pressedienst der Stadt Moskau)

Unter der Federführung des Moskauer Allgemeinen Planungsinstitutes wurde ein Generalplan erstellt, der die Umgestaltung separat im Süd- und im Nordteil vorsieht. Als einer der Projektentwickler für das südliche Areal von über 100 Hektar fungierte bis zum Frühjahr 2022 das niederländische Architektur- und Stadtplanungsbüro KCAP. Für die russische Etalon-Gruppe wurde ein Konzept entwickelt, das sich an der Idee der sogenannten 15-Minuten-Stadt orientiert. Damit ist die Erreichbarkeit von Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten, öffentlichen und medizinischen Einrichtungen innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem öffentlichen Nahverkehr gemeint. Das neue Viertel soll Wohn- und Geschäftsbereiche sowie öffentliche Räume möglichst komfortabel miteinander verbinden und besonders fußgängerfreundlich sein.

Ausländer mit beteiligt

Der nördliche Teil (SIL Nord) wurde maßgeblich von der russischen LSR-Gruppe geplant, allerdings unter Mitwirkung renommierter Architekten wie dem Deutschen Sergei Tchoban oder von Neutelings Riedijk aus den Niederlanden. Die Realisierung ist hier am weitesten fortgeschritten: 17 von 30 Wohngebäuden sind bereits fertiggestellt und auch zahlreiche öffentliche Objekte in Betrieb. Mit ihnen wurden Anziehungspunkte geschaffen, die die Halbinsel an der Moskwa zu einem neuen urbanen Zentrum in Moskau machen.

Hervorzuheben ist beispielsweise die neugestaltete Uferpromenade an der Moskwa, benannt nach dem Maler Marc Chagall. Sie soll ein zentraler Ort der Naherholung werden, gleichermaßen attraktiv für Spaziergänger, Radfahrer oder auch zum Joggen. Diverse Cafés laden zum Verweilen ein. Es besteht auch Anschluss an das Flusstaxisystem als Teil des öffentlichen Nahverkehrs. Für gut betuchte Bewohner des Viertels wurde ein Yachthafen angelegt.

Den zehn Hektar großen Landschaftspark Tjufeljewa Roschtscha hat der niederländisch-amerikanische Urbanist und Landschaftsarchitekt Jerry van Eyck entworfen. Hervorstechendes gestalterisches Merkmal ist ein 1,3 Kilometer langer Pergolengang, der unweigerlich Assoziationen mit einem Förderband hervorruft – eine Reminiszenz an die Industriegeschichte des Ortes.

Eisstadion, Museen und Metro

Ein Besuchermagnet ist der sogenannte Park der Legenden mit der multifunktionalen ZSKA-Arena. Die Eishalle war 2016 bereits Schauplatz der Eishockey-Weltmeisterschaft. Heute trägt hier ZSKA Moskau seine Heimspiele in der Kontinentalen Eishockey-Liga (KHL) aus. Die Halle vereint drei Arenen unter einem Dach, die größte davon mit 12.000 Plätzen. Zwei Arenen können für andere Sportarten, Konzerte, Shows und Ausstellungen umgerüstet werden.

Unmittelbar daneben wurde ein Eishockey-Museum eingerichtet. Ein weiteres Museum für zeitgenössische Kunst wird als Museums- und Ausstellungszentrum unter Leitung des Architekturbüros Speech von Sergei Tchoban aktuell realisiert. Es ist eine Zweigstelle der St. Petersburger Eremitage.

Das gesamte Sanierungsprojekt soll bis 2028 abgeschlossen sein. Noch für das laufende Jahr ist die Eröffnung der Metrostation SIL angekündigt. Eine gleichnamige Station des Moskauer S-Bahn-Rings MZK existiert bereits jetzt.

Thomas Müller

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