Nachruf auf eine Moskauer Fußballhochburg: Mach’s gut, Wostotschka!

Der Ort ist Kult. Oder soll man sagen – war? Das Eduard-Strelzow-Stadion von Torpedo Moskau, 1959 errichtet und benannt nach dem besten Fußballer in der Geschichte des Klubs, wird abgerissen und durch eine moderne Arena ersetzt. Bei Torpedo blutet vielen das Herz.

Das Stadion im Jahr 2007, als hier der mittlerweile nicht mehr existente FK Moskwa seine Heimspiele austrug – im Bild gegen Spartak. Das Derby sorgte für volle Tribünen. (Foto: Tino Künzel)

Ende Juli nahmen Fans und Anwohner bei einem Volksfest Abschied von einem Stadion, in dem so manches ruhmreiche Kapitel der Moskauer Fußballgeschichte geschrieben wurde. Im Herbst 2019 hat Torpedo Moskau hier, einige Kilometer südöstlich des Stadtzentrums und einen Steinwurf von der Moskwa entfernt, sein letztes Heimspiel bestritten – in der FNL, Russlands Zweiter Liga.

Torpedo, ein Klub mit großen Traditionen, steht längst im Schatten der Moskauer Konkurrenz von Spartak bis ZSKA, der Anhang ist weit weniger zahlreich. Aber Zahlen sind eben nur die halbe Wahrheit. Wann war der Verein zuletzt erstklassig? Wann hat er das letzte Mal etwas gewonnen? War das 1976, als er zum dritten Mal Sowjetmeister wurde? Jenseits sämtlicher Statistik (die seit Langem nicht mehr für die Schwarz-Weißen spricht) ist Torpedo in guten wie in schlechten Zeiten vor allem eins: ein Stück Moskau. Schon weil der Klub über Jahrzehnte zum Autogiganten ZIL gehörte, dessen riesiges Betriebsgelände sich in der Nähe befand.

Das ZIL-Werk ist schon lange Geschichte. Und nun ist auch das alte Torpedo-Stadion in der Wostotschnaja-Straße (Wostotschka, wie die Fans ihre Arena liebevoll nennen) Geschichte. Eine groß angelegte Rekonstruktion steht an, bei der die heutigen Tribünen abgerissen werden. Nach Entwürfen des französischen Architekturbüros Michel Remon & Associes, das aus einer Ausschreibung als Sieger hervorging, entsteht praktisch ein neues, überdachtes Stadion mit gut 15.000 Plätzen. Fertig sein soll es bis 2024 – zum 100-jährigen Bestehen von Torpedo. Die von Ex-Nationalspieler Sergej Ignaschewitsch trainierte Mannschaft zieht währenddessen in eines der Stadien auf dem Luschniki-Sportgelände um.

Eine Herzenssache: Stimmen aus dem Torpedo-Lager
 

Jelena Jelenzewa, Präsidentin von Torpedo Moskau zwischen 2017 und 2020 (Hier und weiter: Zitate von Torpedo.ru)

Unser Stadion hat einen festen Platz in meinem Herzen. Das Beste war immer, wenn die Spiele vor vielen Zuschauern stattfanden. Und dann unsere Alleen: Rentner, Mütter mit Kindern und andere Anwohner können hier jederzeit spazieren gehen. Es ist schön, dass unser Stadion immer für Besucher geöffnet war.

Alexander Polukarow, Torpedo-Verteidiger von 1980 bis 1991, UdSSR-Pokalsieger, in der Geschichte des Klubs einer der Spieler mit den meisten Einsätzen

Das Torpedo-Stadion in der Wostotschnaja-Straße ist mein ganzes Leben. Im Januar 1980 kam ich mit 19 Jahren hierher und arbeite bis heute in der Arena. Hier stand ich bei vielen denkwürdigen Spielen auf dem Platz, darunter im UEFA-Cup und im Pokal der Pokalsieger, als wir gegen Sevilla, Brøndby und andere gute euro­päische Vereine gespielt haben.

Tribünensitz als Andenken: Die Fans sagten der Arena tschüs. (Alexander Awilow/AGN Moskwa)

Alexander Alexaschkin, Platzwart im Torpedo-Stadion

Ich arbeite seit 1992 im Stadion, kümmere mich um den Rasen und die Technik. In dieser Zeit habe ich hier viel miterlebt, aber besonders gern erinnere ich mich an den Sieg gegen Manchester United im UEFA-Cup. In diesem Spiel waren die Tribünen überfüllt, die Fans standen wie ein Mann hinter ihrer Mannschaft. Ich würde sagen, dass das Stadion mein zweites Zuhause ist. Ich verbringe hier mehr Zeit als in meiner eigenen Wohnung.

Alexander Petrow, Massagetherapeut und Mannschaftsleiter seit 1975

Das Torpedo-Stadion ist mir zur zweiten Heimat geworden. Als ich 1975 zum ersten Mal in die Wostotschnaja-Straße kam, gab es die Westtribüne noch nicht. Ein Jahr später veranstalteten wir einen Subbotnik: Schaufeln, Karren und Arbeitshandschuhe wurden an alle verteilt und wir schleppten die Ziegel, die später das Fundament der Westtribüne bildeten.

Im Stadion herrschte eine unvergleichliche Atmosphäre: Die Fabrik­arbeiter von ZIL trafen sich nach der Arbeit am Haupteingang und liefen zur großen Anzeigetafel, wo die Tabelle zu sehen war. Wenn die Fans über die Spiele und die Spieler diskutierten, dann immer sehr korrekt und freundlich. Die Menschen lebten diese Vorfreude auf den nächsten Spieltag, weil der sowje­tische Fußball etwas Besonderes war, ganz anders als der heutige russische. Auf dem Feld standen sich die Absolventen unserer Sportschulen gegenüber, es gab keine Ausländer, keine Dominanz der Taktik, dafür mehr Improvisation. Jedes Team hatte seinen eigenen Stil.

Sergej Schustikow, Torpedo-Verteidiger, Spross der legendären Schustikow-Dynastie, Mannschaftskapitän in dritter Generation

Mit diesem Ort sind so viele Emotionen verbunden, dass es schwer fällt, Worte zu finden. Für mich ist die Wostotschka meine Kindheit, mein erstes Fußballspiel, mein Vater und Großvater, meine Familie. Sie ist auch unser berühmtes Aschenspielfeld, ein Loch im Zaun, Sprudelwasser und Teigtaschen auf dem Heimweg vom Training. Im Winter rutschen wir auf Säcken die Hänge hinunter und färbten den Ball orange oder grün, damit er im Schnee zu sehen war.

Es ist sehr traurig, dass unser Stadion bald nicht mehr das Alte sein wird. Ich hoffe, dass das neue uns allen viele positive Emotionen beschert und damit eine neue Seite in der Geschichte unseres legendären schwarz-weißen Klubs aufgeschlagen wird.

Igor Beresin

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