„Anna Karenina“ liefert ein passendes Sujet für ein Musical. Auch wenn sich die Zeiten, Werte und Verhaltensweisem geändert haben, hat Leo Tolstojs Geschichte keine Mindesthaltbarkeit. Der Kernsatz des Werkes „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ bezeichnet das am besten. Eine Frau geht eine Affäre ein und zieht den entwürdigenden Status der Liebhaberin ihrem Familienleben vor. Ein Spiel mit dem Feuer, die verzehrende Leidenschaft oder wahre Liebe? Für Anna eindeutig Letzteres. Doch die russische Adelsgesellschaft kann ihre Handlungen nicht akzeptieren und wendet sich von ihr ab. Die Titelheldin hält den Hass der anderen und ihr eigenes Schuldgefühl nicht aus und stürzt sich vor einen Zug, der als Symbol diese Gesellschaft vertritt.
Das Musical „Anna Karenina“ bietet einen kurzen Streifzug durch die hohe Gesellschaft Moskaus und St. Petersburgs des 19. Jahrhunderts. Regisseurin Alina Chewik hat die Regeln des klassischen Musicals mit der Dynamik und der Spielweise der Darsteller des modernen Sprechtheaters wunderbar verbunden. Die Handlung ist rasant, die melodischen Arien nach Chanson-Art wechseln sich mit Tanzszenen ab. Die Schauspieler wechseln pausenlos zwischen Sprechen und Singen, so als würden sie auch privat nichts anderes machen.Das Bild des fahrenden Zugs und seiner sich drehenden Räder schafft von Anfang an eine beängstigende Atmosphäre. Das Bühnenbild arbeitet ausgiebig mit digitalen Projektionen: Mal sitzt man in einem Opernhaus oder bei einem Galopprennen, dann befindet man sich wieder in einem russischen Dorf. Mit realen Versatzstücken entstehen immer neue Raumkonfigurationen. Das wird von der Beleuchtung ergänzt, die die dunkle Bühne von allen Seiten durchstrahlt und einen symbolischen Lichtkäfig bildet, in den Anna geraten ist.
„Anna Karenina. Anna Wronskaja. Ein armes Mädchen Anja Oblonskaja“, singt die Hauptdarstellerin, in der Jekaterina Gussewa und Walerija Lanskaja auftreten. Hier ist das Wortspiel zu hören. Im Russischen sind „Anna“ und „Anja“ derselbe Name. Aber „Anna“ klingt offiziell und verleiht seiner Namensträgerin Selbstbewusstsein, Widerstandswillen und Unabhängigkeit. „Anja“ ist dagegen sensibel, schutzlos und abhängig. So ist Anna Karenina in ihrem Inneren, deshalb kann sie den Druck der Gesellschaft nicht aushalten, der als Damoklesschwert über ihr hängt. Der Schluss des Musicals wirkt noch emotional stärkerer als das Ende des Romans. Die kleine Anja, Anna Karenina, steht mit dem Rücken zu den Zuschauern. Aus dem hinteren Bereich der Bühne bewegt sich der riesige Zug auf sie zu, seine Scheinwerfer blenden. Es folgen Dunkelheit und Stille.
Anna Braschnikowa