Kein Zug nach Kiew

Der Kiewer Bahnhof in Moskau war einst ein Tor zur Welt, es fuhren von hier Nachtzüge nach Budapest und Bukarest. Seit der Corona-Pandemie blieben nur noch ein paar Inlandsverbindungen übrig – und der Zubringer zum Flughafen Wnukowo.

Kiewer Bahnhof in der Abenddämmerung
Prachtbau im Abendlicht: der Kiewer Bahnhof in Moskau (Foto: Sergej Gunejew/ RIA Novosti)

Wo sich noch vor einem Jahr ein Imbiss an den anderen reihte, finden sich heute nur noch Sitzgelegenheiten für Reisende. Die große Halle des Kiewer Bahnhofs in Moskau mit ihren opulenten Kronleuchtern wirkt leer und steril. Einst Ausgangspunkt internationaler Fernzüge, ist der Bahnhof heute nur noch ein Schatten seiner selbst.

Das liegt weniger an den Konflikten mit der Ukraine seit 2014 als am Rückzug der Russischen Eisenbahnen vom internationalen Nachtzuggeschäft. Die Corona-Pandemie hat schließlich die Reste der einstigen internationalen Eisenbahnherrlichkeit hinweggefegt.
Der heutige Bau entstand zwischen 1914 und 1918 und hörte zunächst auf den Namen Brjansker Bahnhof. Der hölzerne Vorgänger war erst 1899 eingeweiht worden, galt jedoch als viel zu provinziell für eine solche Großstadt und war zum Gespött geworden.

Klassizistischer Bau mit Uhrenturm

Der Neubau sollte also repräsentativ werden. Die Architekten Iwan Rerberg und Wjatscheslaw Oltarschewskij erschufen einen klassizistischen Prachtbau mit einem 51 Meter hohen Uhrenturm und einer 321 Meter langen Bahnsteighalle aus genieteten Stahlbögen, die auf Pläne des berühmten Ingenieurs Wladimir Schuchow zurückgeht. Im Turm befindet sich bis heute eine mechanische Uhr, die letzte von dreien ihrer Art in Moskau.

Halle des Kiewer Bahnhofs
Die Bahnsteighalle geht auf Pläne von Wladimir Schuchow zurück. (Foto: mos.ru)

Da sich der Feldzug Napoleons gegen Russland während der Bauzeit zum 100. Mal jährte, greifen zahlreiche Gemälde im Inneren des Gebäudes Szenen aus dieser Zeit auf. Eine zentrale Stellung nimmt die Schlacht von Borodino ein. Ursprünglich gab es für die erste und zweite Wagenklasse einen eigenen Eingang und eine gesonderte Empfangshalle mit gehobenem Komfort. Heute ist dies der Zugang zu den „Aeroexpress“-Zügen.
Lange Zeit wurde der Kiewer Bahnhof von internationalen Nachtzügen angesteuert. Europä­ische Metropolen wie Kiew, Lwiw, Budapest und Bukarest konnte man von hier ohne Umsteigen erreichen.

Kahlschlag im internationalen Bahnverkehr

Doch im Jahr 2014 gab es bei der Russischen Eisenbahn einen regelrechten Kahlschlag bei den Auslandsverbindungen. Diesem fiel etwa der legendäre D-Zug „Tisza“ zum Opfer, der Moskau mit Kiew, Lwiw, Debrecen und Budapest verbunden hatte. Die internationalen Fernstreckenzüge unter russischer Regie hatten offenbar gegen die Flugzeugkonkurrenz und die billigeren Züge der Ukrainischen und Moldauischen Eisenbahn keine Chance mehr.

An die günstigen Preise der ukrainischen Züge erinnert sich auch Denis Romodin, Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Museum Moskaus. „Ich kaufte oft billige Fahrkarten oder sprach mich mit den Schaffnern der Ukrainischen Eisenbahn ab und mietete von ihnen ein ganzes Dienstabteil, um bequem nach Kaluga oder Brjansk zu reisen und einige Stunden an meinem Laptop arbeiten zu können“, erzählt er. Das war in den 2000er Jahren.

Buntes Treiben in den 2000er Jahren

„In den Wartesälen der Fernzüge herrschte eine ganz besondere Atmosphäre: die ukrainische Sprache und die farbenfroh gekleideten Menschen aus der Ukraine, die nach Moskau kamen, um Verwandte zu besuchen oder Saisonarbeit zu verrichten“, so Denis Romodin.

Kronleuchter im Kiewer Bahnhof
Majestätische Kronleuchter zieren die Hallen des Bahnhofs. (Foto: Sergej Kiseljow/ AGN Moskwa)

Vor dem Bahnhof habe es früher auch einen Markt gegeben, erinnert er sich. Dort seien immer Wahrsager unterwegs gewesen, die auf aufdringliche Weise den Passanten ihre Dienste anboten. Heute steht in direkter Nachbarschaft das mondäne Einkaufszentrum „Jewropejskij“. Dessen bunte Beleuchtung taucht den Platz nach der Abenddämmerung in ein magisches Licht, im Sommer kommen noch Wasserspiele hinzu.

Schaffner verrichten Botendienste

Denis Romodin hatte sogar einen Deal mit ukrainischen Schaffnern, die Kurierdienste für ihn und seine Freunde erledigten. „Ich gab ihnen Architekturbücher nach Kiew mit und meine dortigen Freunde schickten mir umgekehrt leckere Kiewer Torten.“

Nach 2014 blieben noch ukrainische Züge nach Kiew, Odessa, Lwiw, Nikolajew und einer nach Charkiw und Krywyj Rih. Dazu kamen drei Züge in die moldauische Hauptstadt Chișinău, von denen einer von der Russischen Eisenbahn betrieben wurde. Er führte über Tiraspol in der international nicht anerkannten Republik Transnistrien, während die beiden von der Moldauischen Eisenbahn betriebenen Züge über Kiew fuhren.

Kaum noch Nachtzüge

Mit einem solchen fuhr ich selbst noch im Februar 2020 nach Kiew. Mit ihren altbacken in Grün und Blau lackierten Wagen und dem Rauch der Kohleheizungen, der über die Bahnsteige zog, versprühten diese Züge immer eine ganz besondere Atmosphäre. Kein Vergleich mit den meist modernen Schlafwagen der Russischen Eisenbahn.

Am 17. März 2020 war dann damit Schluss. Wegen der Corona-Pandemie wurden alle internationalen Züge eingestellt. Am Kiewer Bahnhof werden sie wohl auch nicht mehr wieder aufgenommen. Geblieben sind Tageszüge nach Kaluga und Brjansk und ein einziger Nachtzug nach Klimowo nahe der ukrainischen Grenze. Im Sommer kommen noch ein paar Züge für Urlauber ans Schwarze Meer dazu. Und jede Stunde fährt der „Aeroexpress“ in Richtung Konkurrenz, zum Flughafen Wnukowo. Nach Kiew, Budapest und Bukarest kommt man von dort momentan aber auch nicht.

Jiří Hönes

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