Zwei Schnitte und ein Weißbrot

Sie stammen größtenteils noch aus der Sowjetunion, sollen Qualität garantieren und sind ziemlich veraltet: Sogenannte GOST-Standards regeln in Russland noch kleinste Details in der Produktion. Jetzt sollen Tausende der veralteten Vorschriften abgeschafft werden. Ein Rückblick auf die fünf absurdesten Regeln.

Stempel, Vorschriften, Regeln: Deutschland ist berüchtigt für seine ausufernde Bürokratie und pedantischen Beamten. Doch auch in Russland wiehert der Amtsschimmel zuweilen ziemlich kräftig. So stöhnen Unternehmer im größten Flächenstaat der Erde seit Langem über veraltete und absurde Vorschriften, welche eigentlich die Sicherheit und Qualität ihrer Produkte gewährleisten sollen. Diese sogenannten GOST-Normen – vergleichbar dem deutschen DIN-System – stammen zum größten Teil noch aus sowjetischen Zeiten und sind für Geschäftsmänner oft ein Klotz am Bein. Dies hat nun auch die Regulierungs-Behörde Rosstandard erkannt, welche die Einhaltung der Vorschriften überwacht. „Veraltete Anforderungen behindern die Entwicklung von Ökonomie und Business“, erklärte Behördenchef Alexej Abramow in einem Interview für die Nachrichtenagentur RIA Nowosti im Juni. „Und das schwache Kettenglied sind in diesem Zusammenhang die sowjetischen GOST-Normen, die vor dem Jahr 1991 angenommen wurden.“ Rosstandard plane deshalb die Abschaffung von rund 10 000 der veralteten Vorschriften.

Maniküre-Zimmer

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Käsereien, Molkereien und andere Betriebe aus der Milchindustrie müssen seit Sowjetzeiten über ein sogenanntes Maniküre-Zimmer verfügen. Die ausschließlich für Frauen vorgesehene Räumlichkeit wird durch die „Sanitärtechnischen Vorschriften und Normen zur Herstellung von Milchprodukten“ vorgeschrieben. Heutzutage beschweren sich gerade kleinere Betriebe über die in die Jahre gekommene und auf den ersten Blick ziemlich absurd anmutende Regelung. Denn oft können – oder wollen – Unternehmer sich die Einrichtung des Extrazimmers nicht leisten. Die Folge: In so mancher kleinen Käserei ist keine einzige Frau beschäftigt, ganze Belegschaften bestehen nur aus Männern. Dabei erscheint die Vorschrift bei genauerer Betrachtung durchaus sinnvoll. Es geht nämlich nicht etwa um Schönheitspflege und Wellness – sondern um Hygiene am Arbeitsplatz. Denn unter den Nägeln können sich Dreck, Larven von Insekten und Mikroorganismen sammeln, die in dem sensiblen Nahrungsmittel nichts zu suchen haben. Im Maniküre-Zimmer sollten die Frauen, die zu Sowjetzeiten den Löwenanteil der Angestellten in der Milchindustrie stellten, ihre Finger dementsprechend sauber halten. Auch lange und lackierte Fingernägel waren tabu.

Putzlappen pur

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Geschirrspüler mit Reinigungstabletten, moderne Wasserstrahler oder gar Putzmaschinen? Von wegen! Teller, Tassen und Besteck dürfen in russischen Restaurants, Gaststätten und Imbissen eigentlich nur mit einem herkömmlichen Waschlappen von Fett und Essensresten gesäubert werden. Auch zum Putzen von Hauseingängen, Treppenfluren und öffentlichen Gebäuden ist die Verwendung der Putzutensilie vorgeschrieben. „Putzfrauen sollten mit einer ausreichenden Zahl von Reinigungsgeräten ausgerüstet sein“, heißt es dazu etwas gestelzt in den „sanitären und epidemiologischen Anforderungen an Organisationen zur Ernährung der Allgemeinheit.“ Konkret gemeint sind Putzlappen und Desinfektions- und Säuberungsmittel. So anachronistisch die Festlegung heute auch wirkt, so sinnvoll war sie zur Zeit ihrer Entstehung. Denn die Putzanweisung stammt aus den ersten Jahren des sowjetischen Staates, als Typhus und teilweise auch Cholera weit verbreitete Krankheiten waren. Moderne Reinigungsgeräte waren noch Mangelware – und der Lappen das Mittel der Wahl.

Ständer für Noten

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An den jüngsten Besuch im Personalbüro seines Arbeitgebers erinnert sich Ruslan Radshapow noch ganz genau. „In der Kaderabteilung musste ich unterschreiben, dass an meinem Arbeitsplatz vorschriftsgemäß ein Notenständer aufgestellt wurde“, erzählte der Büroarbeiter der Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ Anfang Juni. Seit dem treibt den verwunderten Angestellten die Frage nach dem Warum um. „Ich bin doch kein Musiker“, zitiert ihn das Blatt. „Wozu brauche ich einen Notenständer?“ Dass sich die Mitarbeiter aus der Personalabteilung keinen faulen Scherz mit ihrem Angestellten erlaubt haben, zeigt ein Blick in die „GOST-Norm für Displays und den Arbeitsplatz von Computer-Operatoren.“ Dort ist tatsächlich von einem Notenständer die Rede, der in einer Höhe mit dem Computer-Bildschirm des Angestellten aufgestellt werden soll und nicht mehr als 100 Millimeter von dessen Augen entfernt sein darf. Alles unklar, soweit? Aufklärung bringt ein kurzer Ausflug in die Welt der russischen IT-Sprache. Denn mit Notenständer bezeichnen Computerfreaks zwischen Moskau und Wladiwostok eine Halterung zum Anheben des Bildschirms auf Augenhöhe bei Computern, deren Höhe nicht verstellt werden kann.

Brot mit Schnitten

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Zwei Einschnitte an der Oberseite – nicht mehr aber auch nicht weniger: Dieses exakte Erscheinungsbild schreibt der russische Gesetzgeber für Weißbrot der Marke „Moskau“ vor. Auch die Ausrichtung der Schnitte ist exakt festgelegt. Längsseits müssen die beiden Linien verlaufen – und nicht etwa quer wie bei den Brot­sorten „Stadt“ und „Spezial“. Technisch ist die Umsetzung der Vorschrift kein Problem. Doch selbst Experten wundern sich: Wozu das Ganze? Eine Antwort auf diese Frage gibt Marina Kostjutschenko, Direktorin eines Forschungsinstitutes für Bäckereiwesen. „Die Einschnitte verhindern das Einreißen der Oberfläche“, erklärte die Fachfrau jüngst im Gespräch mit der „Komsomolskaja Prawda“. Die GOST-Norm verbessere daher das Aussehen des Brotes. Warum es dafür aber nicht ein Einschnitt weniger oder zwei mehr getan hätten, kann die Wissenschaftlerin allerdings nicht erklären. Und auch der Grund für die Längsausrichtung der beiden Schnitte bleibt wohl für immer ein Geheimnis der staatlichen Planer.

Nur schwarze Tinte

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Nicht blau und nicht grün und auf gar keinen Fall mit einem Bleistift: Streng genommen können Krankschreibungen in Russland nur dann akzeptiert werden, wenn sie in einer ganz bestimmten Farbe ausgefüllt wurden. Und die ist Schwarz. Auch die Wahl der zum Einsatz kommenden Schreibgeräte ist streng vorgeschrieben. So ebnen bei Fieber oder Kopfweh nur Kugelschreiber mit Gel-Mine, Fineliner oder klassische Füllfederhalter den Weg zu der begehrten Arbeitsbefreiung. „Vermerkungen über die Arbeitsunfähigkeit werden auf russischer Sprache mit großen Druckbuchstaben und schwarzer Tinte ausgeführt“, heißt es dazu in gestelzter Behördensprache in einer entsprechenden Anordnung des russischen Gesundheitsministeriums. „Nicht erlaubt ist die Verwendung von Druckkugelschreibern!“ Auch hinter dieser kurios anmutenden Regelung steht jedoch ein rationaler Grund. Und der hat mit der immer weiter fortschreitenden Automatisierung in Russland zu tun. Denn die Formulare für Krankschreibungen werden bei der russischen Sozialversicherung mittlerweile von Automaten bearbeitet. Die Tinte von einfachen Druckkugelschreibern ist oft nicht stark genug, um von den Maschinen erfasst und erkannt zu werden. Auch die Forderung nach der Verwendung von schwarzer Tinte erklärt sich vor diesem Hintergrund. Nur sie ist farblich stark genug, um von den Automatenregistriert zu werden.

Birger Schütz

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