Tabuisiertes Verbrechen

Millionen Zwangsarbeiter schufteten während des Zweiten Weltkriegs in deutschen Unternehmen. Ihr Schicksal spielt in der Erinnerungskultur bislang eine untergeordnete Rolle. Eine Gedenkstätte in Leipzig möchte das ändern.

Ein Gedenkstein in Leipzig erinnert an die Zwangsarbeit in deutschen Unternehmen.
Gedenkstein am Ort des Verbrechens in Leipzig (Foto: David Tiefenthaler)

An die Vergangenheit erinnert wenig auf dem Gelände des Leipziger Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung. Der moderne Forschungscampus beschäftigt sich vor allem mit der Gestaltung der Zukunft. Wäre da nicht ein unscheinbarer, einstöckiger Flachdachbau, der eine Gedenkstätte für die Leipziger Zwangsarbeiter beherbergt. Bis wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich hier die Hugo und Alfred Schneider AG (HASAG). Das Unternehmen stellte in den Kriegsjahren mithilfe tausender Zwangsarbeiter Rüstungsgüter her, darunter die von der NS-Propaganda als Wunderwaffe angepriesene „Panzerfaust“.

Bis in die letzten Kriegstage im Frühjahr 1945 arbeiteten 16.000 Menschen auf dem Gelände, 10.000 waren Zwangsarbeiterinnen, fast ausschließlich Frauen. „Sie kamen aus allen besetzten Ländern, vor allem aus der Sowjetunion, aus Polen und Frankreich“, erklärt Anne Friebel, Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Die HASAG war eines von zahllosen deutschen Unternehmen, die während der Jahre 1939 bis 1945 Kriegsgefangene, KZ-Insassen und ausländische Zivilarbeiter beschäftigte.

Die Firma ist heute kaum noch bekannt

Prominentestes Beispiel ist das Firmenkonglomerat IG Farben. „Was das System Zwangsarbeit und ihre Profiteure angeht, spielt die HASAG in einer Liga mit der IG Farben“, so Friebel über die Firma. Das Werk und die Maschinen wurden nach Kriegsende als Reparationsleistung beschlagnahmt und in die Sowjetunion verbracht. Daher ist die HASAG heute nur wenigen Menschen noch ein Begriff.

Viele noch existierende Unternehmen wie VW, Bahlsen oder Lufthansa, die von den Zwangsarbeitern und der Kriegswirtschaft profitierten, wurden erst in den vergangenen Jahren von Historikern mit diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte konfrontiert. Lange ließen auch die Anerkennung und Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter auf sich warten. Sowjetische Kriegsgefangene etwa wurden erst 2015, 70 Jahre nach Kriegsende entschädigt. Die Einmalzahlung von 2500 Euro kam für die meisten Zwangsarbeiter zu spät.

Lange Zeit fehlte das Unrechtsbewusstsein

Warum das Thema lange Zeit ein Tabu blieb, hat für Anne Friebel mehrere Gründe. Lange habe das Unrechtsbewusstsein gefehlt. So stehe der Holocaust unbestritten im Fokus der deutschen Erinnerungspolitik. Deshalb gebe es auch nur wenige Institutionen, die sich mit dem Thema beschäftigen. „Außerdem hat die Forschung zur Zwangsarbeit erst in den 90er-Jahren begonnen“, ergänzt sie. Im Zuge der entstehenden Debatte wurde auch die Gedenkstätte in Leipzig 2001 ins Leben gerufen. Den Anstoß dazu hatten ehemalige KZ-Häftlinge gegeben, die sich jährlich zum Gedenken versammelten.

Mittlerweile beherbergt die Gedenkstätte ein Archiv, eine Bibliothek und eine Ausstellung. Die Arbeit der drei Angestellten findet jedoch auch außer Haus statt. Sie leiten Seminare mit Schulklassen oder Stadtteilrundgänge, die die Geschichte der Zwangsarbeit in lokalen Kontexten veranschaulichen. Immer wieder treten auch Verwandte von Zwangsarbeitern oder auch von damaligen Tätern an Anne Friebel heran, um ihre eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten: „Es ist vor allem die Enkel- und Urenkelgeneration, die das Schweigen brechen und mehr wissen will.“

Leipzig war damals so international wie nie

Traditionell sind das Frühjahr und die Wochen rund um die jährlichen Befreiungsfeiern die geschäftigste Zeit im Jahr der Gedenkstätte, mit Familienbesuchen aus der ganzen Welt und den Gedenkfeiern. Dieses Jahr ist alles anders. „Wegen der Corona-Krise verschiebt sich auch bei uns ein Großteil der Arbeit ins Digitale“, so Friebel. Mittels Podcasts, digitaler Stadtrundgänge und Aktionen in den sozialen Netzwerken versucht die Gedenkstätte, auf das furchtbare Schicksal der Zwangsarbeiter aufmerksam zu machen. Das sei kein Ersatz für die persönlichen Begegnungen, meint Friebel. Dennoch funktioniere das Konzept der Gedenkstätte „überraschend gut auf Plattformen, die sonst eher für ‚leichte‘ Inhalte ausgelegt sind“.

Für sie ist die Geschichte der Zwangsarbeiter unverändert zeitgemäß, getreu dem Motto der Gedenkstätte: Erinnern für die Zukunft. „In den Kriegsjahren waren bis zu 100.000 Ausländer in Leipzig, so international war Leipzig noch nie und trotzdem war es eine Parallelgesellschaft, die mit den Deutschen nichts zu tun hatte.“ Vergleiche seien schwierig, so Friebel. Dennoch: Aktuelle Themen wie Ausgrenzung, Rassismus und Ungleichbehandlung überschneiden sich in der Zwangsarbeit. Wer über dieses öffentliche Verbrechen der Nationalsozialisten nachdenkt, landet schnell bei der Frage nach der eigenen Zivilcourage: Wie nehme ich Unrecht wahr? Sehe ich weg?

David Tiefenthaler

Zwangsarbeit in Deutschland 1939–1945

Ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland wäre die deutsche Wirtschaft während des Zweiten Weltkriegs vollkommen zusammengebrochen. Im Sommer 1944 etwa deckten Zwangsarbeiter ein Viertel des gesamten Arbeitskräftebedarfs im Deutschen Reich. Ein Verbrechen, das in jedem Dorf und in jeder Stadt passierte. Kriegsgefangene, ausländische Zivilarbeiter und KZ-Häftlinge mussten unter miserablen Bedingungen in der Rüstungsindustrie, am Bau oder in der Landwirtschaft arbeiten. Insgesamt waren 20 bis 25 Millionen Menschen betroffen, die meisten aus der Sowjetunion.

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