Zum Glück bist du nicht Moskau

Eine Liebeserklärung an St. Petersburg und seine Menschen von einer Petersburgerin

Die russische Hauptstadt heißt Moskau. Die russische Hauptstadt des Tourismus heißt St. Petersburg. Ausländer lieben die einstige Zarenmetropole. Doch Fremdenführerin Tatjana Swiridowa liebt sie noch mehr. Eine Geschichte um Sein und Bewusstsein in der Newastadt.

Von Tino Künzel

An einem schönen Frühlingstag vor einem halben Jahr tritt eine Frau aus dem Russischen Mu­seum auf die Straße. Vor ihr liegt der Platz der Künste, der so heißt, weil er eingerahmt ist von historischen Bauten, die hier ein Theater, da ein Museum und zum Newskij-Prospekt hin auch noch das vornehme Grand Hotel Europe beherbergen. In der Mitte der Grünanlage, die den größten Teil des Platzes einnimmt, steht ein Denkmal für Alexander Puschkin.

Als die Frau sich dem russischen Nationaldichter auf seinem Sockel nähert, schaut sie sich um. Es ist ungewöhnlich still, keine Menschenseele zu sehen. Sie wähnt sich allein, aber sie ist es nicht. Denn plötzlich vernimmt sie eine Kinderstimme, die von der anderen Seite des Denkmals kommt. Noch ein paar Schritte, dann erblickt sie einen Jungen, vielleicht acht, neun Jahre alt. Er steht da, den Kopf nach oben gerichtet, und rezitiert, deklamiert ein Gedicht. Feierlich und konzentriert. Denn er tut das nicht nur für sich. Ohne Puschkin auch nur ein einziges Mal aus den Augen zu lassen, trägt dieser Knirps ihm den „Ehernen Reiter“ vor, eines der berühmtesten Werke des großen Sohnes von St. Petersburg, geschrieben 1833.

Erst als der Kleine verstummt, bemerkt er die Frau, die wie angewurzelt stehengeblieben ist. Er könne übrigens das gesamte Gedicht auswendig, ruft er ihr zu. Sie nickt und lobt ihn. Dann setzt sie ihren Weg fort, und Stolz erfüllt sie auf diese Stadt, ihre Stadt, in der Geschichte nicht einfach zur Kulisse versteinert ist, sondern gelebt wird. Zumindest ist es das, was sie glauben möchte, als große Patriotin von St. Petersburg, die sie ist.

Sicher wissen Sie, wie die Eremitage aussieht. Deshalb an dieser Stelle lieber der Blick von der Isaakskathedrale. / Tino Künzel

Sicher wissen Sie, wie die Eremitage aussieht. Deshalb an dieser Stelle lieber der Blick von der Isaakskathedrale. / Tino Künzel

Und nun sitzt die Frau in ihrem Büro vis-à-vis vom weltberühmten Mariinskij-Theater, auf der anderen Seite des Altbaus schlängelt sich der Gribojedow-Kanal durch die Innenstadt. Er ist von Fußgängerbrückchen überspannt, die auf der Karte als Fotopunkte eingetragen sind. „Wenn Sie die Löwenbrücke erreichen, dann sind Sie fast da“, hatte es am Telefon geheißen. Draußen vor dem Bürofenster wird lärmend das Konservatorium saniert. Drinnen stehen Apfelkuchen und Tee auf dem Tisch.

Die Gastgeberin heißt Tatjana Swiridowa. Sie ist Germanistin, und wenn sie Deutsch spricht, dann besser als viele Deutsche. Das mag daran liegen, dass sie in Übung bleibt. Swiridowa hat ein Reisebüro, sie arbeitet als Fremdenführerin für ausländische Touristen, die meisten kommen aus Deutschland. Das heißt: Wenn sie denn kommen. Im Moment gehen die Geschäfte eher schlecht, Sie wissen schon: Russland und Deutschland sind in letzter Zeit nicht gerade näher zusammengerückt, um es vorsichtig auszudrücken, das macht sich auch im Reiseverkehr bemerkbar. Noch so ein Jahr wie 2015 möchte sich Tatjana Swiridowa lieber gar nicht erst ausmalen.

Von Touristen, die sich nicht vor Russland fürchten sollen 

Und es sind ja nicht nur die Zahlen. Eine ihrer letzten Reisegruppen im vorigen Sommer mit Touristen aus Süddeutschland habe sich dadurch ausgezeichnet, dass die Gäste quasi immer auf der Hut gewesen seien. „Man konnte die Anspannung mit Händen greifen. Die Leute haben die ganze Zeit damit gerechnet, dass ihnen etwas zustoßen kann.“ Swiridowa hat ihnen von Peter dem Großen erzählt, der eine Stadt aus dem Nichts erbauen ließ, von Glanz und Gloria, Puschkin und Dostojewskij, den sie nicht mag, weil er ihr zu düster ist. Aber das Wichtigste, das sie ihnen mit auf den Weg geben wollte, war: „Die sollen nie wieder Angst haben, wenn sie nach Russland kommen.“

Tatjana Swiridowa vor der Neuen Eremitage in ihrem St. Petersburg. / Tino Künzel

Tatjana Swiridowa vor der Neuen Eremitage in ihrem St. Petersburg. / Tino Künzel

Für Swiridowa ist ihr Beruf Berufung. Heute hat sie eingeladen, um über „ihr“ St. Petersburg zu sprechen. „Piter“, wie die Einheimischen sagen, weil das praktischer ist. Und weil die Russen ja allem und jedem einen Kosenamen verpassen. Aber es klingt auch nach „Du“, nach einer Verwandtschaftsbeziehung. Nach „in guten wie in schlechten Zeiten“.

Wenn Tatjana Swiridowa von den Petersburgern redet, dann oft in Wir-Form. „Wir lassen es nicht zu, dass die Isaakskathedrale wieder der russisch-orthodoxen Kirche übereignet wird, sie soll das Museum bleiben, das sie ist.“ Oder: „Stellen Sie sich vor, da ist doch letztes Jahr tatsächlich die Katze Wassilissa, eine kleine Skulptur, aus einer Seitenstraße am Newskij-Prospekt verschwunden. Halunken wollten sie beim Schrotthandel zu ein paar Rubel versilbern. Aber wir haben unser Kätzchen gefunden, bevor es eingeschmolzen werden konnte.“

Wer ist das: „wir“? Swiridowa sagt, damit meine sie den aktiven Teil der Gesellschaft. Die, denen das Schicksal ihrer Stadt nicht gleichgültig sei. Und davon gebe es in St. Petersburg mehr als anderswo.

Der erste Impuls eines Petersburgers sei stets: „Wie kann ich helfen?“ Das hört sich nun doch sehr idealisiert an. Aber Tatjana Swiridowa mag ein besonders waches Auge für ihre Mitmenschen haben, weil sie selbst, geboren und aufgewachsen in Anapa am Schwarzen Meer, erst als junge Frau dazugestoßen ist. An der Leningrader Staatsuniversität trat sie ihr Philologiestudium an und erinnert sich bis heute an den ersten Eindruck von der Stadt, am 25. Juni 1971: „Meine Mutter und ich sind aus der Metro gestiegen und da war dieses Gefühl von Sonne und Glück.“

Von Stalin, der glücklicherweise „unsere Stadt nicht geliebt hat“

Sie hätte auch in Moskau studieren können, dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen in ihrem Leben. Man hatte Moskau in Erwägung gezogen. Doch so richtig ist sie mit der Stadt nie warm geworden, schon als Achtklässlerin nicht, als sie bei einem Besuch auf dem Roten Platz weglief, weil ihr dort zu viel Polizei war. Und auch später als Erwachsene nicht. Im Gegensatz zum Gesamtkunstwerk St.  Petersburg mit seiner riesigen Altstadt kam ihr Moskau immer fragmentarisch und ungemütlich vor. „Das Moskau, das wir kennen, hat Stalin mit Lineal und Bleistift erschaffen. Bloß gut, dass er unsere Stadt nicht geliebt hat und kein einziges Mal hier gewesen ist.“

1985 fing Swiridowa beim Staatsbetrieb Intourist als Fremdenführerin an. Was sie den Ausländern zeigen durfte und sollte, bestimmten andere. Den Sowjetzeiten trauert sie nicht nach. „Ich weiß meine Unabhängigkeit zu schätzen.“ Jetzt müssten nur wieder mehr Touristen kommen.

„Stadt zum Leben“

St. Petersburg oder Moskau – wo ist es besser? Stefano Patron (52), Italiener aus Venedig, hat 13 Jahre in Moskau gelebt und für Benetton gearbeitet. Heute ist er mit russischer Frau und kleinem Sohn in St. Petersburg zu Hause, aber als Projektmanager bei Sportmaster die Woche über in Moskau.

Stefano Patron / Privat

Stefano Patron / Privat

Was hat St. Petersburg, das Moskau nicht hat?
Es geht entspannter zu, weniger aggressiv. Fami­liärer. Intellektueller. Man hetzt nicht wie ein Verrückter durch die Gegend. Für mich fühlt sich St. Petersburg europäischer an.

Und was hat Moskau, das St. Petersburg nicht hat?
Mehr Hektik und Stress. (Lacht) Alle wollen nach Moskau, weil man hier gutes Geld verdient, die Gehälter sind höher als anderswo in Russland. Ich würde sagen: St.  Petersburg ist die Stadt zum Leben, Moskau die Stadt zum Arbeiten.

Sie sind 1999 nach Moskau gekommen. Was hat sich seitdem verändert?
Mir scheint, dass die Stadt immer mehr von den Zugereisten geprägt wird. Und dass sich das Leben hauptsächlich in den großen Kaufhäusern abspielt. Vielleicht ist das auch normal bei dem Klima. Andererseits muss man anerkennen, dass gerade in letzter Zeit viele Fußgängerzonen entstanden sind, dass mehr Rad gefahren wird. Es tut sich etwas.

Bei St. Petersburg denkt man an Eremitage und Newskij-Prospekt. Aber die meisten Petersburger wohnen in den Plattenbauvierteln sowjetischer Herkunft weiter draußen.
Stimmt, darin unterscheidet sich St. Petersburg nicht von Moskau. Ich werde nie begreifen, wie man so einen Gegensatz zwischen Altstadt und Außenbezirken zulassen konnte. Ich selbst wohne im Petrograder Bezirk, ziemlich zentral. Eine schöne Gegend, wir fühlen uns dort sehr wohl.

Das Interview führte Tino Künzel

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