Drei Schornsteine, ein Nackter und Lokalpolitik in der russischen Provinz

Auch in Russland, so steht es geschrieben, geht die Macht vom Volke aus. Dafür wählt es aus seiner Mitte Menschen wie Iwan Lemechow. Der 34-Jährige ist Direktor des Kulturhauses in der Kleinstadt Wolgoretschensk zwischen Kostroma und Iwanowo – und parteiloser Abgeordneter im Stadtrat. Hier erzählt er, warum sein Volksvertreterdasein mehr Frust als Lust ist und was die Steuerpolitik damit zu tun hat.

Drei Schornsteine am Rande von Wolgoretschensk, Region Kostroma (Foto: Tino Künzel)

Herr Lemechow, Ihr Account bei VKontakte ist voll mit Fotos und Reiseberichten aus anderen Ländern. Wenn man Sie im Ausland fragt, wo Sie herkommen, wie beschreiben Sie dann Ihren Heimatort?

Die meisten Ausländer kennen von Russland nur Moskau und St. Petersburg. Ich sage also, dass Wolgoretschensk nicht besonders weit von Moskau entfernt ist. Es sind zwar 300 Kilometer, aber nach russischen Maßstäben ist das ja wirklich nicht viel. Die Stadt eine halbe Autostunde südlich von Kostroma wurde erst 1964 gegründet und hat 16.000 Einwohner. Ihr Markenzeichen sind drei Schornsteine, von denen der längste 320 Meter hoch ist. Sie gehören zum Wärmekraftwerk Kostroma, einem der größten in Russland und ganz Europa. So wie Pisa seinen schiefen Turm hat und Rom sein Kolosseum, so haben wir eben drei Schornsteine am Rande der Stadt, die von überall zu sehen sind. Aber bei uns wird nicht nur Strom produziert.

Was denn noch?

Es gibt zum Beispiel einen Fischzuchtbetrieb, der sich mit Kaviar vom Stör einen Namen gemacht hat. Dort werden seit ein paar Jahren auch Führungen angeboten. Die Leute kommen echt von weit her, um sich das anzuschauen, das ist eine touristische Attraktion. Der Betrieb befindet sich neben dem Kraftwerk. Er nutzt das warme Wasser, das von dort in die Wolga gelangt, weshalb sie bei uns im Winter eisfrei ist. Noch so eine nicht ganz alltägliche Firma, die hier vor acht Jahren eröffnet wurde, ist ein Hersteller italienischer Weichkäse: Mozzarella, Burrata, Ricotta, Caciotta und so weiter. Bei uns fallen also eine ganze Menge Steuern an. Aber darauf kommen wir sicher noch zu sprechen.

Iwan Lemechow, Abgeordneter. Der jetzige Direktor des Kulturhauses „Energetik“ arbeitete früher in der Stadt beim Fernsehen und war Chefredakteur der Lokalzeitung. (Foto: Swetlana Jarowizina)

Nehmen wir mal an, ein Westeuropäer verirrt sich nach Wolgoretschensk. Was könnte ihm im Stadtbild gefallen?

Wir haben aus verständlichen Gründen keine Baudenkmäler aus früheren Jahrhunderten zu bieten, seien es nun ein Rathaus oder eine Kirche. Und vieles sieht aus wie anderswo auch. In der Sowjetunion wurde überall nach dem gleichen großen Plan gebaut. Nehmen Sie das Kulturhaus, in dem wir gerade sitzen: Es unterscheidet sich nicht von zig anderen im gesamten Land. So ist das auch mit Schulen, mit Krankenhäusern, ja mit den Städten im Allgemeinen. Aber immerhin kann Wolgoretschensk mit ein paar Paradoxen aufwarten. So steht hier keine Lenin-Statue auf dem zentralen Platz, sondern eine Prometheus-Skulptur. Zu Sowjetzeiten war das ein Novum – der erste Nackte, den man auf einen Sockel stellte. Doch die größte Eigenheit unserer Stadt sind ihre Menschen. Als seinerzeit das Kraftwerk gebaut wurde, kamen die Arbeitskräfte aus der gesamten Sowjetunion. Viele blieben. Deshalb sind hier verschiedene Kulturen und sogar Religionen zu Hause, was für ein ganz besonderes Lokalkolorit sorgt.

Im Herbst 2020 wurden Sie für fünf Jahre in die Duma, den Stadtrat, gewählt, haben damals die meisten Stimmen in Ihrem Wahlkreis bekommen. Mit welchem Ziel sind Sie angetreten?

Ich möchte die Stadt offener, lebenswerter und komfortabler nach innen machen und bekannter nach außen, den industriellen Tourismus fördern – nur der dürfte hier wohl eine Chance haben.

Prometheus auf dem zentralen Platz von Wolgoretschensk mit Blick auf das Hotel Wolgoretschensk (Foto: Tino Künzel)

Nennen Sie uns ein paar Punkte aus Ihrem Wahlprogramm?

Für Lokalwahlen werden keine Programme erstellt. Als Abgeordneter kann man ohnehin nichts ändern.

Das sagen Sie jetzt so beiläufig.

Was ich meine, ist: Die Duma trifft keine sonderlich globalen Entscheidungen. Ich habe deshalb vor allem generell für eine Verjüngung in den Gre­mien geworben. Und dafür, dass die 15 Abgeordneten des Stadtrats  sich als Teil einer Mannschaft verstehen. Es ist so schon nicht einfach, sich als Provinzstadt Gehör bei den föderalen Behörden in Moskau zu verschaffen, aber man kann es wenigstens versuchen. Wenn jedoch jeder sein eigenes Süppchen kocht, dann ist das von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nur gemeinsam können wir etwas zum Wohle der Bürger bewegen. Das ist vielleicht zu jugendlich-naiv gedacht, aber vielleicht auch nicht.

Ungefähr ein Viertel Ihrer Amtszeit ist bereits vorbei. Wie fällt eine Zwischenbilanz aus?

Ich bin zunehmend enttäuscht, auch von mir selbst. Mir ist es bisher nicht gelungen, dass wir in der Duma an einem Strang ziehen. Und meine Ideen, derentwegen ich in die Duma wollte, kann wahrscheinlich niemand gebrauchen. Die Stadt hat ganz banal kein Geld. Der Haushalt ist schon seit Langem defizitär.

Woran liegt das?

Das Grundübel, an dem die rus­sische Provinz krankt, ist die Steuer­politik. Sie ist unvollkommen und einfach falsch. Von den Steuern bleibt viel zu wenig vor Ort. Deshalb kann eine Stadt mit so viel Industrie und so einem Steueraufkommen wie unsere sich keinen glatten Asphalt leisten und muss an der Straßenbeleuchtung sparen.

Das klingt nicht danach, als ob es sich lohnte, ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort zu sein, oder nur in begrenztem Maße. Wie erklären Sie sich das?

So manifestiert sich die Machtvertikale auf diesem Gebiet. Von oben wird das Geld nach unten verteilt. Zunächst nimmt man es weg. Aber wenn man darum bittet, dann fließt es eventuell in Form von Fördermitteln oder Subven­tionen zurück.

Man traut den Kommunen nicht zu, Einnahmen nach eigenem Ermessen auch sinnvoll auszugeben?

Man hält sie an der kurzen Leine. Wenn unsere Städte aufblühen sollen, dann muss als Erstes dieser Verteilungsmechanismus auf den Prüfstand. Einstweilen sind die Spielregeln so, dass ich mit jedem Projekt – und seien es Reparaturen am Dach oder die Installation einer neuen Lichtanlage für die Bühne bei uns im Kulturhaus – gar nicht erst zum Bürgermeister zu gehen brauche, denn das Stadtsäckel ist leer. Ich schreibe laufend Förderanträge, um Geld von außen an Land zu ziehen.

Das Kulturhaus, eines der Zentren des sozialen Lebens in Wolgoretschensk. Es beherbergt auch ein Kino. (Foto: Tino Künzel)

Ist es ernüchternd, wenn man große Pläne verwirklichen möchte, aber sich fast nur mit kleinen Detailfragen herumschlagen muss?

An diesen Fragen können ganze Schicksale hängen, deshalb würde ich sie nicht als „klein“ bezeichnen. Heute zum Beispiel saß ein Ehepaar bei mir hier im Büro. Beide haben wegen Personalkürzungen ihre Arbeit verloren und fragten, ob es nicht im Kulturhaus freie Stellen gebe. Da konnte ich ihnen nicht helfen, aber spiele seitdem in Gedanken alle möglichen Varianten durch. Denn mir ist klar, in welcher Lage sie sich befinden: Eine Familie steht ohne Einkommen dar und damit ohne Mittel, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Welche Leistung, die Sie selbst für Ihre Stadt erbracht haben, würden Sie hervorheben?

Von den Sachen, die man sehen kann, ist es vielleicht der kleine Skatepark bei uns an der Hauptstraße. Die Kids mit ihren Skateboards und Rollern hatten nie einen festen Ort für sich allein. Die waren zum Beispiel vor meinem Bürofenster zugange. Deshalb habe ich mich um Fördermittel bemüht. Für die Anlage selbst hat das Geld gereicht, für den Bodenbelag nicht mehr. Also sind wir zusammen losgezogen und haben einen geeigneten Standort ausgewählt, wo der Untergrund asphaltiert ist. Als der Park aufgebaut war, bin ich abends auf dem Nachhauseweg dort vorbeigefahren – da waren bestimmt 100 Leute zu sehen. Ich hatte das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Aber es dauerte nicht lange, da haben sich Anwohner über den Krach beschwert. Ich bin sogar von der Staatsanwaltschaft vorgeladen worden. Lärmmessungen haben ergeben, dass da keine Grenzwerte überschritten wurden. Man hat dann einen Kompromiss gefunden.

Es gibt auch eine Leistung, die man nicht sehen kann?

Zusammen mit anderen habe ich hier zwei Rockfestivals organisiert. Auf unseren Aufruf im Internet hin haben sich Bands aus ganz Russland gemeldet, sogar aus Wladiwostok. Beim ersten Mal hatten wir über 60 Teilnehmer, das Jahr darauf noch mehr. Mit Butterfly Temple aus Moskau war sogar eine in bestimmten Kreisen ziemlich bekannte Gruppe dabei. Die brachten zwei Busse mit Fans mit. Aber letztlich hat sich dann erwiesen, dass außer fünf Leuten niemand ein gesteigertes Interesse an dem Festival hatte. Auch der Zuschauerzuspruch hielt sich in engen Grenzen.

Was haben Sie in Ihrer Eigenschaft als Volksvertreter Neues über Ihre Stadt und deren Bürger gelernt?

Viele Leute leben noch in dem Bewusstsein, dass das Kraftwerk sich finanziell stark in der Stadt engagiert, dass Wolgoretschensk vergleichsweise reich ist und bei uns zum Stadtfest echte Stars auftreten. So war das früher. Aber die Zeiten ändern sich und das Unternehmen ist längst nicht mehr der Geldgeber, der es einmal war. Gleichzeitig wird aber oft erwartet, dass gewisse Wohltaten weiterhin gewährt werden, ohne dafür etwas tun zu müssen. Dieser Mentalität ist nur schwer beizukommen. Was mich andererseits freut, ist das wachsende Interesse an urbanis­tischen Themen wie öffentlichen Räumen und einer fahrradfreundlichen Stadt. Die Provinz hinkt bei der gesellschaftlichen Entwicklung immer fünf Jahre hinter Moskau her. Es dauert, bis bestimmte Tendenzen auch bei uns ankommen, aber es ist nur eine Frage der Zeit.

Fixpunkte in der Stadt: die erst 2006 fertiggestellte Tichonow-Kathedrale und natürlich die Essen des Wärmekraftwerks am Horizont. (Foto: Tino Künzel)

Bei all den Hindernissen und Widerständen: Was treibt Sie an?

Ich möchte hier nicht weg. Wenn ich auch mal eine Zeitlang außerhalb gearbeitet habe, so bin ich immer wieder zurückgekehrt. Aber viele in meinem Alter sind längst abgewandert. Wenn es gelingt, ein paar Dutzend Familien von diesem Schritt abzuhalten, dann ist das schon toll. Gerade für junge Familien können sich die Bedingungen in Wolgoretschensk eigentlich wirklich sehen lassen, bis hin zu allen möglichen außerschulischen Aktivitäten bei uns im Kulturhaus. Als ich selbst noch in der Schule war, hatte ich überhaupt keine Freizeit. Ich habe in der Musikschule Akkordeon gespielt, in einem Vokalensemble gesungen, Theater gespielt, mich mit Computern beschäftigt und war Sänger und Gitarrist meiner eigenen Rockgruppe. Das Angebot für Kinder ist auch heute groß.

Was sind die Gründe, warum viele weggehen?

Der wichtigste Grund ist bessere – und besser bezahlte – Arbeit. Meine ehemaligen Mitschüler, die heute in Moskau leben, wollen nicht wieder zurück. Klar, das ist eben Moskau. Aber wenn ich ehrlich bin, wäre das nichts für mich. Morgens der lange Weg zur Arbeit, abends der lange Weg nach Hause – das ist doch kein Leben.

Wie muss man sich die Arbeit eines Abgeordneten vorstellen?

Sie ist ehrenamtlich. Wir bekommen nur eine Aufwandsentschädigung, die Mobilfunkkosten abdecken soll. Wenn es Sie interessiert, wie hoch die ist – das ist kein Geheimnis: 3200 Rubel (etwa 35 Euro – d. Red.). Davon kaufe ich immer mal Blumen für die Beete in der Stadt oder tue meinem Kollektiv im Kulturhaus etwas Gutes. Einmal im Monat hält die Duma eine Sitzung ab. Daneben gibt es noch fünf Fachkommissionen, in denen konkrete Sachfragen behandelt werden. Da trifft man sich dann auch schon mal mehrmals in der Woche.

Wie steht es um die Reaktionen auf Ihre Arbeit? Werden Sie auf der Straße angesprochen?

So gut wie nie. Manchmal lädt man uns ein, dann stehen wir den Bewohnern eines Hauses bei ihnen im Hof Rede und Antwort. Ansonsten äußern sich die Leute hauptsächlich in den sozialen Netzwerken, vor allem in der Gruppe „Aufgeschnappt in Wolgoretschensk“ auf VKontakte. Die Menschen fordern von uns Abgeordneten ein besseres Leben, das ist ihr gutes Recht. Aber wer das System von innen kennt, der weiß, dass man viele Hoffnungen enttäuschen muss.

Was bekommen Sie so in den sozialen Medien zu hören?

Selten Argumente, das Meiste sind Emotionen. Und kaum jemand schreibt unter seinem wirklichen Namen.

Wie kommt das?

Angst. Die Leute fürchten, ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie sich in bestimmter Weise äußern. Dabei bergen die Lokalthemen, um die es hier geht, eigentlich eher wenig Zündstoff. Aber die Geschichte hat die postsowjetischen Menschen gelehrt, dass überall Gefahren lauern und dass alles einen doppelten Boden hat. Es ist historisch noch nicht lange her, dass man von Nachbarn denunziert wurde und mitten in der Nacht abgeholt werden konnte, um ins Gefängnis gesteckt oder erschossen zu werden. Es steckt deshalb in unseren Genen, misstrauisch zu sein, sogar gegenüber engen Bezugspersonen. In Europa sind seit den Zeiten der Hexenverfolgung schon Jahrhunderte ins Land gegangen. Aber bei uns ist das alles noch so präsent, als ob es gestern gewesen wäre.  

Antworten Sie auf Kritik im Internet?

Hin und wieder lege ich meinen Standpunkt dar, ja. Aber ich habe gelernt, dass es nichts bringt, sich auf Diskussionen einzulassen. Was ich immer anbiete, ist ein Gespräch unter vier Augen. Meine Tür steht allen offen. Ich verstecke mich nicht und laufe nicht davon. Aber keiner kommt.

Das Interview führte Tino Künzel.

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