Die Gretchenfrage 2018: Wie halten es Deutsche mit der WM in Russland?

Die Fußballweltmeisterschaft ist nicht nur ein Grund zum Jubeln. Deutschland diskutiert, ob es moralisch vertretbar ist, dass Politiker zur Fußballweltmeisterschaft nach Russland reisen. Die schwierige politische Lage und die vielen Missstände, sei es die Festnahme von oppositionellen Demonstranten, Missachtung der Menschenrechte oder Staatsdoping, führten zu zahlreichen Boykottaufrufen. Die MDZ hat bei deutschen Experten aus Politik, Wirtschaft und Journalismus nachgefragt: WM in Russland – ist das richtig?

WM in Russland: Die Welt schaut einen Monat auf das Riesenreich. /Foto: RIA Novosti.

Julius von Freytag-Loringhoven, Projektleiter Russland und Zentralasien, Friedrich-Naumann-Stiftung

In der Tradition der Olympiade wollen Großereignisse im Sport wie die WM für eine kurze Zeit Menschen aus der ganzen Welt zusammenbringen, Sport treiben und erleben lassen. Weil die Welt für einen Monat auf Russland schauen wird, ist das eine Gelegenheit, um Vorurteile und Stereotypen abzubauen. Sport und Politik sind sich selten ganz fern. Eine WM ist immer auch die Präsentation des Gastgeberlandes. Russland profitiert außen- und wirtschaftspolitisch von einer reibungslosen WM. Das ist in Ordnung, aber deswegen muss sie auch genutzt werden, um wichtige Probleme und Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen. Politische Gefangene passen nicht zu einem friedlichem Fest des Sportes. Ich werde mir die Spiele anschauen.

Meine Frau und ich haben Karten für das Spiel Dänemark-Peru in Saransk. Weil Saransk für mich ein dunkler Fleck auf der Landkarte war, werde ich Dank der WM auch wieder etwas mehr über Russland lernen. Ich freue mich auf die Spiele und die vielen Menschen aus aller Welt, die nach Russland kommen werden.

Falk Bomsdorf, ehemaliger Projektleiter Russland und Zentralasien, Friedrich-Naumann-Stiftung

Politiker haben bei einer Fußballweltmeisterschaft nichts zu suchen, wo auch immer sie stattfindet.

Hajo Seppelt, ARD-Dopingexperte

Dass die WM in Russland ausgetragen wird, ist nicht mehr umkehrbar. Es ist generell problematisch, dass große Sportorganisationen mit autokratisch regierten Systemen kungeln, was ja im Falle der FIFA und Russland auf der Hand liegt. Da hätte man die Notbremse viel früher ziehen müssen, zum Beispiel nach der Annexion der Krim oder nach der Aufdeckung des Staatsdopingskandals. Die Sportler können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass die WM in Russland stattfindet. Das sind Entscheidungen, die Funktionäre am grünen Tisch treffen und die nicht etwa auf dem grünen Rasen getroffen werden.

Der Sport darf nicht als Bühne für politische Machtspiele missbraucht werden. Das muss man nach den Winterspielen in Sotschi 2014 von Russland leider befürchten. Insofern glaube ich, dass die öffentliche Inszenierung vom Schulterschluss auf dem angeblich so politikfreien Feld des Sports ein Schuss nach hinten ist. Man muss davon ausgehen, dass Russland diese WM als sportliche und politische Propagandashow benutzt. Ich finde, dass Politiker, die dieser Inszenierung und Vereinnahmung kritisch gegenüberstehen, vielleicht nicht so gut beraten wären, sich in Einigkeit auf der Pressetribüne mit denjenigen, die sie eigentlich kritisieren, zu präsentieren. Gleichwohl kann ich es auch nachvollziehen, wenn Politiker beispielsweise eine deutsche Mannschaft im Trainingslager besuchen.

Die übergeordnete Frage ist: Welches Bild gibt man ab angesichts der angespannten politischen Situation? Bietet man eine Propagandabühne, indem man sich werbewirksam mit russischen Politikern inszeniert, die für massive Eingriffe in die Presse- und Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte von Menschen stehen? Da würde ich für Zurückhaltung plädieren.

Andreas Steinborn, Delcreda-Gruppe, Experte für Kreditmanagement in Russland und den GUS-Staaten

Wir sollten bei Bewertungen jeder Art, in diesem Fall, ob es richtig ist, an einer Sportveranstaltung teilzunehmen, immer den gleichen Maßstab anlegen. Welches wäre dieser? Umgang mit der Opposition, Menschenrechte und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Wenn dies die Maßstäbe sind, in welchen Ländern kann man dann noch Sportveranstaltungen durchführen? Mit anderen Worten: Wir sollten meines Erachtens Sportveranstaltungen dazu nutzen, die Kontakte mit Ländern, wo es nach unseren Maßstäben noch Handlungsbedarf gibt, ausbauen und durch internationale Sportereignisse auch Entwicklungen in dem jeweiligen Land zu befördern helfen. Insofern, ja, für mich ist eine WM in Russland eine sehr gute Entscheidung.

Renata Alt, FDP-Bundestagsabgeordnete 

Europas Politiker sollten nicht den Eindruck erwecken, Wladimir Putin im Stadion zu hofieren, von einem generellen Boykott halte ich aber nichts. Dies widerspräche dem friedlichen und fairen Gedanken des Sports. Vielmehr sehe ich die WM als Chance, Russland als vielfältiges Land kennenzulernen, sich mit der Zivilgesellschaft auszutauschen und gesellschaftliche Missstände zu thematisieren. So kann die Politik außerhalb des Stadions etwas Positives bewirken.

Andreas Knaul, Leiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Rödl & Partner in Russland und Kasachstan

Für uns stehen im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft die umfangreichen Investitionen in die russische Infrastruktur im Vordergrund. Von diesen hat auch die deutsche Wirtschaft in Russland profitiert. So waren beispielsweise an der Modernisierung des Schienennetzes auch deutsche Unternehmen beteiligt. Als Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft öffnet sich Russland der Welt, darin sehen wir eine Chance für die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit. Wir erwarten, dass die Fußballweltmeisterschaft positive Impulse für die russische Wirtschaft geben wird. Ein Boykott des Turniers wäre aus wirtschaftlicher Sicht nicht zielführend.

Alexander Schachner, ALPE Consulting, Experte für Management- Systeme in Russland

Es ist absolut richtig, die WM und auch sonstige sportliche und andere Großveranstaltungen in Russland durchzuführen. Russland ist vielleicht nicht das demokratischste Land der Erde, jedoch von einer Diktatur weit entfernt. Warum fragt bei China oder anderen Ländern, nie jemand nach!? Davon abgesehen sind Boykotts respektive Sanktionen nie ein funktionierendes Mittel. Das hat uns die Geschichte bereits zur Genüge bewiesen.

Hermann Krause, Leiter des Hörfunkstudios der ARD in Moskau

Die Hoffnung, dass große Sportereignisse sich positiv auf die innenpolitische Entwicklung eines Landes auswirken, haben sich bisher nie erfüllt. Die Olympischen Spiele in China haben die Lage der Menschenrechtler nicht verbessert, auch in Russland wird sich innen- und außenpolitisch wenig ändern. Die Krim wird nicht zurückgegeben, die militärische und finanzielle Unterstützung der Separatisten nicht zurückgefahren, der Krieg in Syrien nicht eingestellt. Möglicherweise gibt es einen Austausch von Gefangenen zwischen der Ukraine und Russland vor Beginn der WM.

Das russische Fernsehen wird eine Riesenpropagandashow veranstalten, der Kreml wird sich brüsten, die Welt soll begreifen: Russland ist ein wunderbares Land. Da kann die Politik Putins doch gar nicht so schlecht sein! Viele Fans werden das am Ende wohl so mit nach Hause nehmen. Und die Zahl der Eheschließungen zwischen Russinnen und angereisten deutschen Männern wird deutlich ansteigen – mit den entsprechenden Folgen! Auch eine WM sorgt für Nachwuchs!

Jan Dresel, Leiter des Auslandsbüros der Hanns-Seidel-Stiftung in Moskau

Die Fußball-WM in Russland durchzuführen, ist richtig. Man sollte eine unnötige Politisierung von Sportereignissen grundsätzlich vermeiden. Gerade in schwierigen Zeiten darf ein wichtiger Aspekt nicht vergessen werden: Sportliche Großereignisse können dazu beitragen, wichtige Gesprächskanäle offen zu halten. Ich hoffe auf eine friedliche Weltmeisterschaft, die uns alle vielleicht wieder etwas näher zusammenbringt. Fußball hat durchaus das Zeug dazu, eine völkerverbindende Kraft zu sein.

Zusammengestellt von Simon Federer.

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