Heimatkunde mit Wladimir Kaminer

Für viele Menschen ist Russland noch immer ein weißer – wenn auch ziemlich großer – Fleck auf der Landkarte. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer hat einige besonders dumme Fragen über seine Heimat beantwortet.

Warum betrinken sich die Russen ständig sinnlos?

Das ist eine Unterstellung. Die Russen betrinken sich niemals sinnlos, sondern immer aus einem guten Grund. Oft ist es draußen zu kalt oder zu warm. Um ihre Körpertemperatur auszugleichen, nehmen sie Hochprozentiges zu sich. Das hilft in der Kälte, nicht zu frieren, und in der Hitze, besser zu schwitzen. Außerdem trinken die Russen der Freundschaft wegen, weil sie als höfliche Menschen nicht Nein sagen können, manchmal betrinken sie sich aus Einsamkeit oder fühlen sich an nationalen Feiertagen zum Trinken verpflichtet. Selten trinken sie aus Frust, wenn es gar nichts zu feiern gibt. Sonst betrinken sich die Russen nie.

Warum ist es in Russland immer so eisig kalt?

Durch die fehlende soziale Gerechtigkeit im Weltraum sind manche Länder weiter von der Sonne entfernt als die anderen. Egal, wie fleißig sich die Erde dreht, in Russland bleibt es immer kalt. Dafür sind aber die Menschen dort warm, herzlich und solidarisch, das Land wird per Zentralheizung beheizt, die von dem Präsidenten persönlich am 15.10. an und am 15.03. ausgemacht wird. Es gibt natürlich immer unzufriedene Bürger, die ihre Heizung früher, später oder sogar ganz frech selbst umschalten wollen. Sie werden als Dissidenten geschmäht und müssen in der Regel das Land verlassen.

Klassisches Russlandbild mit Zwiebelturm: die Basiulius-Kathedrale in Moskau. © Tino Künzel

Warum müssen alle russischen Herrscher den Zaren geben?

Die Abwesenheit der demokratischen Institutionen macht aus jedem Austausch des politischen Personals eine persönliche Tragödie. Die Herrscher von gestern wissen, dass die Nachfolger ihnen nachträglich wehtun und kein Gericht, keine meinungsbildenden Medien sie schützen können. (Sie haben sie ja selbst abgeschafft.) Also klammern sie sich mit aller Kraft an die Macht. Die Bürger können sie nicht abwählen und tun so, als hätten sie es gar nicht nötig. Und die Welt schaut zu und sagt, ach diese Russen, die sind halt so, sie können nicht ohne ihren Zaren leben.

Wann wird Russland endlich ein großes Turnier im Fußball gewinnen?

Wenn Fußball irgendwann auf dem glatten Eis gespielt wird. Die Russen können im grünen Gras nicht schnell laufen, da wollen sie sich sofort hinlegen. Auf Glatteis sind sie aber unschlagbar.

Sind die Russen tief in ihrem Herzen Anarchisten?

In einem großen Land sollen die Menschen eigentlich besonders freiheitsliebend und anarchistisch aufwachsen. In kleinen Ländern, dort wo die Menschen eng nebeneinander leben, sind sie darauf angewiesen, ständig neue Regeln und Gesetze für das zwischenmenschliche Zusammensein zu erlassen. In Wahrheit aber werden gerade in den großen Ländern die Bewohner am heftigsten unterdrückt. Auf der ganzen Welt gibt es nicht so viele strenge Gesetze wie in Russland, und es werden täglich mehr. Die Strenge dieser Gesetze wird einzig durch den laschen Umgang mit ebendiesen ausgeglichen.

Ist das Leiden eine russische Tugend?

Natürlich leiden die Russen nicht allein. Alle leiden. Jedes Volk hat eine besondere Art des Leidens und ein entsprechendes Wort dafür, das sich in eine andere Sprache nicht übersetzen lässt. Auf Portugiesisch heißt es Saudade – die helle Sehnsucht nach unwiederbringlich Verlorenem, das nicht mehr wiederherzustellen ist. Die Deutschen leiden an dem Phantom Weltschmerz – die Sorge über etwas nicht Greif- und nicht Sichtbares, das nicht direkt mit dem Leben des Besorgten zu tun hat. Ein gutes Beispiel dafür ist die Feinstaubdebatte oder die globale Erwärmung oder der Berliner Flughafen. Die Russen leiden unter Toska, einem Fatalismus, der ihnen das tägliche Aufstehen beinahe unmöglich macht. Sie stellen sich Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Was soll das? Wozu das alles? Was hat das Leben für einen Sinn? Gleichzeitig haben sie immer ein Leckmich in der Hosentasche, für den Fall, dass ein anderer sie dasselbe fragt.

Warum ist der russische Bär nur so ein ungehobelter Wildling?

Der Bär soll gar nicht so schlimm sein wie sein Ruf. Er schläft ein halbes Jahr und den Rest der Zeit sammelt er im Wald Pilze und Beeren. Trotz seiner Harmlosigkeit bleibt der Bär ein geheimnisvolles Wesen. Der Grund dafür ist einfach zu erklären. Die meisten Menschen, die Unfug über den Bären verbreiten, haben nie einen gesehen. Und diejenigen, die einen Bären gesehen haben, schweigen.

Was hat Russland, was Deutschland nicht hat?

Betrunkene Autofahrer ohne Autoversicherung.

Haben Sie die russische Seele bereits entdeckt?

Die russische Seele ist eine deutsche Erfindung, vor allem wurde sie durch die Auftritte des Sängers Ivan Rebroff bekannt, eines Falschrussen aus Spandau mit Bauch und Bart. In Russland blieb Ivan Rebroff weitgehend unbekannt.

Warum fahren alle deutschen Rentner mit der Transsibirischen Eisenbahn?

Viele deutsche Rentner haben an dieser Eisenbahn mitgebaut, ob als Kriegsgefangene oder später in Arbeiterbrigaden aus der DDR. Sie fahren heute gerne mit der Transsib, um sich an die alten Zeiten zu erinnern, als die Menschen noch ohne Lohn arbeiteten, abends am Feuer tanzten und Wodka aus der Flasche tranken. Von hinten sah der Sozialismus manchmal echt gut aus.

Warum haben sich die Russen nur so eine verdammt schwere Sprache ausgedacht?

Damit ihre politische Führung nicht mitkriegt, was die Menschen wirklich über sie denken. Diese Sprache ist eine Nebelgranate, sie sorgt nicht für mehr Verständnis, sondern für Missverständnisse aller Art. Unter sich verstehen sich die Russen blendend ohne Sprache. Mit einem Blick, einem Augenzwinkern ist alles erzählt.

Haben Deutsche und Russen trotz aller Grundverschiedenheit nicht vielleicht doch etwas gemeinsam?

Deutsche und Russen sind kaum voneinander zu unterscheiden. Die Russen schimpfen übers Wetter, machen ständig Selfies, sammeln im Spätsommer Pilze und Beeren, legen die Pilze ein und kochen aus den Beeren die Konfitüre, die sie an den langen Winterabenden vor dem Fernseher aufessen. Viele Deutsche, die ich kenne, handeln ähnlich.

Sind Sie traurig darüber, dass Sie als Russe geboren wurden und den Deutschen nun ständig Russland erklären müssen?

Ich erkläre sehr gern den Deutschen die Russen und den Russen die Deutschen, das geht leicht. Nimm einen Deutschen, gib ihm zwei Bier und einen Kurzen dazu, schon kommt sein innerer Russe zum Vorschein. Rasiere einen Russen glatt und kitzele ihn ein wenig, damit er nicht so grimmig guckt, da hast du deinen Deutschen.

Dieser Beitrag stammt aus dem Buch „Doppelpass mit Russland – Ein Reiseführer in die russische Fußballkultur“, das zur Fußball-WM vom Journalisten-Netzwerk n-ost und dem Projekt Fankurve Ost konzipiert und produziert und von der DFB-Kulturstiftung herausgegeben wurde. Unter www.doppelpassmit-russland.de kann es kostenlos heruntergeladen werden.

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