„Wir sind nicht gegen Euch“

Beim Abschuß der MH17 über der Ukraine im Juni 2014 starben 268 Menschen. Ihre Familien schreiben am Vorabend der Fußball-WM einen offenen Brief an die Russen.

Ein prorussischer Separatist fotografiert die Trümmer der MH17. /Foto: Reuters / PIXSTREAM.

Die Weltmeisterschaft ist in Russland – wie antworten wir darauf?

Im Juni wird die Welt für die Fußballweltmeisterschaft ihre Augen auf Russland richten. Dies wird ein lange erwartetes und freudvolles Ereignis. Für die meisten Russen wird es ein Anlass zu tiefem Nationalstolz sein.
Manche von uns, die wir diesen Brief schreiben, sind leidenschaftliche Fußballfans, andere nicht. Aber keiner von uns wird an dieser Weltmeisterschaft so Anteil nehmen, wie wir es bisher getan hätten. Wir haben etwas gemeinsam, das diesem Ereignis und dem Ort, an dem es stattfindet, eine andere, dunklere Bedeutung gibt.

Im Juli 2014 wurde der Flug MH17 der Malaysian Airlines über der Ukraine abgeschossen. Zweihundertachtundneunzig Menschen wurden getötet. Unter den Körpern, die zwischen den Trümmern und den Sonnenblumenfeldern lagen, waren usere Kinder, unsere Partner, unsere Brüder und Schwestern, unsere Eltern.

Die Auswirkungen auf unser Leben

Obwohl fast vier Jahre vergangen sind, seitdem unsere Leben zerschmettert wurden, ringen wir noch darum zu begreifen, was passiert ist. Die Menschen, die wir lieben, wurden im Krieg getötet, in einem Krieg, in dem sie keine Kämpfer waren, in einem Krieg, mit dem sie nichts zu tun hatten. Wir wissen, dass sie nicht die einzigen Opfer dieses Konfliktes sind. Mehr als 10 000 Menschen wurden getötet, die Mehrheit von ihnen Zivilisten. Ihre Familien trauern wie unsere, nicht verstehend, warum ihnen die Menschen entrissen wurden, die sie lieben. Es ist die Endgültigkeit des Todes, die so schmerzhaft ist. Mit einer Trennung könnten wird leben, sogar für Jahre, wenn wir wüssten, dass sie ein Ende hätte.

Wir, die Familien der in der MH17 Getöteten, atmen noch, aber auch unsere Leben, so wie wir sie bisher gelebt haben, sind an diesem Tag beendet worden. Wir sind nicht mehr die Menschen, die wir vorher waren. Die Welt, in der wir leben, ist dunkler und weniger hoffnungsvoll. Wir haben darum gekämpft, den Glauben an das Gute im Menschen zu bewahren. Es kann sein, dass einige von uns wieder ein Gefühl von Sinn und Glück finden werden. Aber wir weden für immer von dem brutalen und plötzlichen Tod derjenigen, die wir lieben, gezeichnet sein.

Doch mehr als uns hat diese herzlose Tat die Menschen definiert, die wir lieben. Ihre Geschichten, die hätten weitergehen sollen, sind abrupt zum Stillstand gekommen. Wir können sie jetzt nicht mehr erleben, wir können uns nur noch an sie erinnern. Ein Teil unseres Erinnern muss darin bestehen, von der Urechtmässigkeit ihres Todes zu sprechen und darauf zu drängen, dass diejenigen, die dieses Verbrechen begangen haben, zur Verantwortung gezogen werden. Die Mensche, die wir lieben, können nicht mehr für sich selbst sprechen.

Wir wissen, dass zwischen Russland und der Ukraine eine lange Geschichte besteht und dass es verschiedene Perspektiven darauf gibt, was 2014 zum Ausbruch des Konflikts geführt hat. Kein Nationalstaat ist schuldlos, auch unsere eigenen nicht. Alle Nationen haben das Recht, so gut sie können zu gedeihen, ohne die Rechte anderer zu behindern oder zu verletzen. Alle müssen bereit dafür sein, sich dem Anteil, den sie in diesem Konflikt haben zu stellen. Aber was auch immer die Geschichte und die genauen Umstände sind, nichts davon kann jemals den Abschuss einer Passagiermaschine und die Tötung der Menschen an Bord rechtfertigen. Wie antworten wir darauf?

Die Frage von Hass und Verantwortung

Wie alle, die den gewaltsamen Tod eines Menschen erleben mussten, den sie lieben, sind wir versucht, mit Hass zu antworten. Aber wir müssen die einfachen Russen von den Verantwortlichen trennen – von der Kommandokette, die zum Abschuss der MH17 führte. Die meisten von uns kennen russische Menschen nicht gut. Hass und Misstrauen kommen zum Teil aus Ignoranz und wenn wir mehr über die Geschichte einer Person wissen, kann das unsere Sichtweise ändern. Wir wissen, dass die Russen ein Recht haben, zu gedeihen wie unsere Lieben. Nichtsdestotrotz, wir kämpfen mit uns. Wenn es uns gelingen sollte, das zu ändern, wird es Zeit brauchen. Doch wir wissen, dass es uns aufzehren würde, dem Hass und der Bitterniss nachzugeben und dass, unkontrolliert zwischen den Nationen, Hass und Bitternis das menschliche Leben dieses Planeten zerstören.

Es ist leichter, wenn wir uns daran erinnern was wir gemeinsam haben und dass wir alle Menschen sind. Einige von uns haben die Gesichter der russischen Familien gesehen, nachdem im Oktober 2015 der Metrojet 9268 über Ägypten bombardiert und zerschmettert wurde und alle 224 Menschen an Bord getötet wurden. Sie waren überwältigt von Trauer, darum kämpfend zu begreifen, was geschehen war. Wir verstehen die Fassungslosigkeit, das Grauen des gewaltsamen und plötzlichen Verlusts unserer Lieben. Wenn wir diese Familien jemals treffen sollten, könnten wir vielleicht ein Gespräch mit ihnen beginnen, weil wir eine zentrale Wahrheit des Lebens des Anderen schon kennen. Nein, wir geben nicht den Russen die Schuld für das, was passiert ist. Wir sind nicht gegen Euch. Wir sind der Meinung, dass der russische Staat und seine Anführer schlussendlich für den Tod unserer Familienangehörigen verantwortlich sind. Alle Indizien weisen in diese Richtung. Für uns ist es schon eine lange Wartezeit gewesen, aber irgendwann in der Zukunft wird das fünfköpfige gemeinsame Ermittlungsteam seinen Abschlussbericht vorlegen und Namen nennen. Dann wird das zuständige Gericht in den Niederlanden die Beweise sorgfältig abwägen und entscheiden, welche Personen verantwortlich waren.

Die Wichtigkeit der Wahrheit

Wir vertrauen auf die Gründlichkeit und Unparteilichkeit der Arbeit des gemeinsamen Ermittlungsteams. Dasselbe kann nicht von der Berichterstattung der staatlichen russischen Medien über die MH17 gesagt werden.

In den ersten Monaten waren einige von uns beunruhigt über die vielen, oft widersprüchlichen Geschichten aus Russland, die davon berichteten, was mit der MH17 passiert sei. „Die MH17 wurde von einem ukrainischen Jet abgeschossen.“ „Sie wurde von einer Rakete, die für das Flugzeug des russischen Präsidenten bestimmt war, in die Luft gesprengt.“ „Sie war schon voll von Leichen und wurde absichtlich zerschmettert.“ „Sie wurde von einer BUK-Rakete heruntergeschossen, aber nicht von einer russischen.“ Die schockierenden, verstörenden und widersprüchlichen Nachrichten wurden dann in Veröffentlichungen durch verschiedene soziale Medien um das Tausendfache vergrößert. All das Material war erschreckend. Einigen von uns kamen Zweifel. Erst später wurde uns klar, dass genau das beabsichtigt war. Diese Praktiken sind Teil einer koordinierten staatlichen Kampagne von Fehlinformationen, welche darauf abzielt, abzulenken und zu verwirren, sowie eine alternative Realität zu schaffen, in der alle Wahrheit relativ ist und keiner Information vertraut werden kann.

Die russischen staatlichen Medien und private Medien, die mit dem Staat zusammenarbeiten, beteiligen sich an dieser abscheulichen und betrügerischen Kampagne. Wir wissen, dass alle Länder, auch unsere eigenen, die Wahrheit beugen und manchmal lügen. Aber wollen russische Menschen wirklich in einem Land leben, in dem die Wahrheit aufgehört hat zu existieren? Vielleicht denken einige von ihnen schon, dass wir nicht existieren und dass dieser Artikel erfunden ist?

Nun, wir sind real, und unsere Hoffnung ist, dass sich letztendlich die Wahrheit durchsetzt.

Wir appellieren erneut an die russische Regierung, bei der internationalen Untersuchung von MH17 vollauf mitzuwirken. Es wird unsere Familien nicht zurückbringen, aber die Wahrheit zählt, die Wahrheit existiert und wir wollen, dass die Schuldigen für MH17 benannt und zur Verantwortung gezogen werden. Wir lehren unsere Kinder, wenn sie klein sind, dass sie ihre Fehler eingestehen und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen. Wir wollen, dass unsere Regierungen dasselbe tun. Wir fordern Russland auf, dasselbe zu tun.

Gemeinsames Menschsein

In den letzten Monaten haben die weltweiten Spannungen zugenommen. Gerade in einer Atmosphäre der Feindseligkeit und des Misstrauens brauchen wir internationale Systeme, in denen das Recht regiert und jeder darauf vertrauen kann, dass Gerechtigkeit und Fairness möglich sind. Wir müssen unser Gefühl des gemeinsamen Menschseins wiederherstellen. Letztendlich sind wir alle gemeinsam hier auf diesem einen, kleinen, blauen Planeten.
Im Jahr 2014 lagen unsere Kinder und Familien leblos inmitten der Felder und Sonnenblumen der Ostukraine. Im Jahr 2015 lagen russische Kinder und Familien leblos auf den Steinen und dem Sand der ägyptischen Wüste. Im Tod sind wir nicht so verschieden. Sprachliche, kulturelle, ethnische und religiöse Barrieren spielen keine Rolle mehr. Was bleibt, ist Verlust und Liebe. Menschlicher Verlust und menschliche Liebe.

Diese Weltmeisterschaft

All dies ist in unseren Köpfen und Herzen, während wir über diese Weltmeisterschaft in Russland nachdenken. Fußball wird auch das Weltspiel genannt. Im besten Fall kann der Fußball das widerspiegeln, was an uns allen bewundernswert ist – unsere unterschiedlichen Spielstile, unsere Kultur, unseren Gesang und unsere Kleidung, unsere sichtbare Leidenschaft oder unsere eiserne Disziplin, unser Können, Mut und Kreativität, die reine Freude am Spiel, die Sehnsucht uns einzusetzen und bis zum Äußersten gebracht zu werden sowie den Respekt, den wir denen entgegenbringen, mit denen wir konkurrieren.

Im schlimmsten Fall kann Fußball die Hässlichkeit dessen widerspiegeln, zu dem wir fähig sind. Das Spielerische kann in einen verschlossenen und aggressiven Nationalismus abgleiten, Trennungen und Vorurteile verstärken, alte Wunden öffnen und neue verursachen.

Die Fußballweltmeisterschaft kann eine Feier unseres gemeinsamen Menschseins sein. Sie kann, wenn auch flüchtig, ein Beispiel für unsere Fähigkeit sein, in Frieden miteinander zu leben. Wenn sie das ist, dann werden wir vielleicht besser fähig sein, den Kopf zu heben um zuzusehen. Möge diese Weltmeisterschaft frohen Mutes gespielt werden. Wir hoffen, dass sie ein Erfolg wird, den die einfachen Russen genießen. Aber wir können nicht leugnen, dass aus unserer Sicht ein Schatten über diesem Ereignis liegt. Wir sind uns schmerzlich der dunklen Ironie bewusst, dass die russischen Staatsoberhäupter, die beteuern, die Welt mit offenen Armen zu empfangen, diejenigen sind, welche die Hauptschuld dafür tragen, dass unsere Welt zerschmettert ist. Und dass es dieselben Staatsoberhäupter sind, die beharrlich versucht haben, die Wahrheit zu verbergen und sich der Verantwortung zu entziehen, seit diesem schrecklichen Tag im Juli 2014.

Unterzeichnet

Jon und Meryn O’Brien (Jack O’Brien, 25), Australien
Jeremy und Louise Pocock (Ben Pocock, 20), Großbrittanien
Rob Fredriksz und Silene Fredriksz-Hoogzand (Bryce Fredriksz, 23 und Daisy Oehlers, 20), Niederlande
Joanna Anderson (Stephen Anderson, 44), Großbrittanien
Claudio Villaca-Vanetta (Glenn R. Thomas, 49), Großbrittanien
Hans de Borst (Elsemiek de Borst, 17), Niederlande
Paul Guard (Roger Guard, 67 und Jill Guard, 62), Australien

Mit freundlicher Genehmigung nach dem Erstabdruck in der Nowaja Gaseta übersetzt aus dem Englischen von Fabiane Kemmann

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