„Meine Oma hat Nansen gesehen“

Ein Fest an der Wolga, auch zu Ehren von Fridtjof Nansen. Seit 2017 wird im ehemals deutschen Marx der „Brothafen“ gefeiert und damit an die große Tat eines großen Mannes erinnert.

Die Kleinstadt Marx an der Wolga wurde einst von deutschen Siedlern gegründet und zu Sowjetzeiten nach dem deutschen Philosophen Karl Marx benannt. Vom Nordopol ist sie ziemlich weit entfernt. Dennoch ging hier an einem Herbsttag des Jahres 1921 der berühmte Polarforscher Fridtjof Nansen an Land. Allerdings war nicht wissenschaftliches Interesse der Grund dafür, sondern eine humanitäre Mission. Der Norweger hatte eine großangelegte interna­tionale Hilfs­aktion zu Gunsten der Bevölkerung an der Wolga organisiert, nachdem Teile Sowjetrusslands nach den schlimmen Jahren des Bürgerkriegs nun unter einer noch furchtbareren Hungerkatastrophe litten. Betroffen davon waren nicht weniger als 30 Millionen Menschen, fünf Millionen fielen ihr zum Opfer. Ohne Nansens Hilfe wären es noch mehr gewesen.

Nansen-Denkmal in Marx. Hier kam er 1921 der notleidenden Bevölkerung zu Hilfe. © Tino Künzel

In Marx, das von 1918 bis 1941 zur deutschen Wolgaautonomie gehörte, bis diese mit der Deportation der Wolgadeutschen unter Stalin ihr Ende fand, ist man ihm dafür bis heute dankbar. Mitte August wurde zum zweiten Mal das Festival „Brothafen“ an der früheren Anlegestelle gefeiert: mit Musik, Spiel, Spaß und einem großem Feuerwerk. Vorigen Herbst hat man am selben Ort ein Denkmal für Nansen aufgestellt, gestiftet von Unternehmer Alexander Kamajew aus dem benachbarten Engels. Es zeigt den Wohltäter mit einem kleinen Mädchen, das einen Brotlaib an sich drückt.

Nansen, seinerzeit Hochkommissar für Flüchtlingsfragen im Völkerbund, sammelte mit einer privaten Stiftung 40 Millionen Franken an Hilfsgeldern ein. Dafür wurde vor allem Getreide gekauft. Aber Nansen begab sich auch selbst in die Unglücksregion, das letzte Stück des Wegs legte er dabei auf der Wolga mit dem Schiff aus Saratow zurück. Vom Balkon eines Hauses im damaligen Marxstadt soll er eine kurze Ansprache gehalten und den Menschen Mut zugesprochen haben. Dokumentarisch verbürgt sei das zwar nicht, sagt Alexander Kirssanow vom Stadt­museum, aber es gebe Augenzeugen, darunter in seiner eigenen Familie: „Meine Oma hat Nansen gesehen.“

Die Sowjetregierung soll Nansen nicht vorbehaltlos vertraut haben, denn der half auch den „Weißen“ bei ihrer Emigration in den Westen. Gleichzeitig gerieten die Bolschewiken in Verdacht, im Ergebnis des Friedensvertrags von Brest-Litowsk Getreide nach Deutschland zu liefern, obwohl es im eigenen Land dringend gebraucht wurde.

Dank der Hilfsleistungen der Nansen-Stiftung konnten Suppenküchen errichtet werden, die monatlich bis zu 300.000 Kinder versorgten. Erwachsene eingeschlossen, profitierten nach Angaben der Historiker Arkadij German und Olga Pomogalowa 675.000  Menschen von den Spenden. Vielen haben sie das Leben gerettet.

Tino Künzel

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