Wenn die Armee regiert

Einschränkungen der Bürgerrechte und eine Stärkung des Militärs: Als Reaktion auf den Konflikt in der Meerenge von Kertsch hat die Ukraine das Kriegsrecht ausgerufen. Wann und wo hat es das in Europa zum letzten Mal gegeben? Die MDZ gibt einen Überblick.

Die Ukraine hat zum ersten Mal seit ihrer Unabhängigkeit das Kriegsrecht verhängt. Es gilt 30 Tage. /Foto: politeka.net

Es gilt für 30 Tage und in insgesamt zehn Regionen entlang der russischen und transnistrischen Grenze: Die Ukraine hat zum ersten Mal seit ihrer Unabhängigkeit das Kriegsrecht ausgerufen. Der Schritt erfolgte Ende November als direkte Reaktion auf die Eskalation des Konfliktes mit Russland in der Meerenge von Kertsch.

Im Fall einer konkreten Bedrohung stärkt das Kriegsrecht nun die Rolle des Militärs im Inneren. So gehen beispielsweise Polizeiaufgaben in Kampfgebieten an die Armee über. Diese ist zudem berechtigt, Personen zu kontrollieren, Wohnungen zu durchsuchen oder Verkehrskontrollen durchzuführen. Das Kriegsrecht hat zudem spürbare Folgen für die Bevölkerung: So können Demonstrationen und Versammlungen verboten, die Pressefreiheit eingeschränkt und Eigentum für Verteidigungszwecke beschlagnahmt werden. Das Kriegsrecht ist ein massiver Eingriff, der noch eine Stufe über dem Ausnahmezustand steht. Wann und wo das Mittel in Europa zuletzt verwendet wurde.

Türkei

Ausgangssperren, Panzer, Schüsse: Als am 15. Juli 2016 in Ankara das Militär nach der Macht greift, verhängen die Putschisten den Kriegszustand. Doch der Staatsstreich misslingt, Präsident Recep Erdoğan setzt sich durch – und regiert zwei Jahre per Ausnahmezustand. Es war nicht das erste Mal, dass die Militärs am Bosporus zum Kriegsrecht griffen. Zuletzt hatte General Kenan Evren im September 1980 die umstrittene Regierungsform angewandt. Nach dem damaligen Militär-Putsch verhängte er in allen 67 damaligen Provinzen der Türkei das Kriegsrecht. Die Armee begründete ihr Vorgehen mit dem zunehmenden Terror rechter und linker Gruppen. Alle Parteien und Gewerkschaften wurden verboten, das Parlament aufgelöst, über 200 Parlamentarier verhaftet. In den kommenden Jahren wurden etwa 650.000 Menschen in türkischen Gefängnisse gesperrt, es kommt zu zahlreichen Hinrichtungen. Amnesty International spricht von Folterfällen. Bis 1982 gibt das Militär die Macht schrittweise ab – bleibt aber im Hintergrund ein wichtiger Machtfaktor.

Polen

Nach anhaltenden Streiks und Demos der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność ergreift das Militär am 13. Dezember 1981 die Macht in Polen. Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski ruft als erste Maßnahme das Kriegsrecht aus. Rund 100.000 Soldaten und Mitglieder von Sondereinheiten errichten daraufhin im ganzen Land Kontrollpunkte. Ausgangssperren werden verhängt, Telefonleitungen gekappt und die Versammlungsfreiheit aufgehoben. Etwa 10.000 Oppositionelle und einfache Bürger kommen ins Gefängnis, mehr als 350 Protestkundgebungen werden brutal zerschlagen. In Kattowitz erschießt die Polizei dabei neun Streikende. Insgesamt kommen mehr als 30 Menschen durch das Kriegsrecht zu Tode. Nach knapp anderthalb Jahren wird das Kriegsrecht am 22. Juli 1983 aufgehoben. Bis heute führt die Erinnerung an diese Zeit in Polen zu hitzigen Diskussionen. General Jaruzelski rechtfertigte sein Handeln bis zu seinem Tod mit einem angeblich drohenden Einmarsch der sowjetischen Armee.

Spanien

Das Spanien der 1930er Jahre ist zwischen Linken und Rechten heftig umkämpft. Demonstrationen, Straßenkämpfe und politische Morde sind an der Tagesordnung. Mehrmals greift die Regierung auf das Kriegsrecht zurück, um die brenzlige Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mehrfach kommt es in dessen Folge zu Gräueltaten an linken Aktivisten, Anarchisten und Kommunisten. Zum ersten Mal wird das Kriegsrecht im Oktober 1934 ausgerufen Damals war es nach einem Generalstreik in Asturien zu einem Aufstand der Bergarbeiter gekommen. Die Regierung schickte General Franco mit der Fremdenlegion und maurischen Hilfstruppen gegen die Aufständischen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, 1500 Bergarbeiter kommen ums Leben. Zwei Jahre später putscht General Franco gegen die demokratisch gewählte Regierung und stürzt das Land in einen dreijährigen blutigen Bürgerkrieg. Immer wieder nutzt er das Kriegsrecht, um sich politischer Gegner durch Massaker, Terror und Morde zu entledigen.

Irland

Am Ostermontag 1916 stürmt Patrick Pears mit 400 Getreuen das Hauptpostamt von Dublin und setzt so nach 700 Jahren britischer Fremdherrschaft den Startpunkt für den irischen Befreiungskampf. Die Briten verhängen darauf das Kriegsrecht über die Stadt. Es kommt zu Erschießungen, die Stadt wird mit Artillerie beschossen, das Hauptpostamt bombardiert. Insgesamt verlieren etwa 1500 Menschen in fünf Tagen ihr Leben, die Anführer werden hingerichtet. Im drei Jahre später folgenden Unabhängigkeitskrieg und späteren Bürgerkrieg stellen die Briten den Großteil Irlands Stück für Stück unter Kriegsrecht. Militärgerichte können Bürger zum Tode verurteilen oder ohne Begründung für längere Zeit festhalten. Paramilitärische Gruppen sorgen unter der Zivilbevölkerung für Angst und Schrecken. Doch all die Gewalt ist vergeblich, 1922 entsteht die Republik Irland.

Birger Schütz

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