Wahl der Qual

In Russland macht man sich wenig Hoffnung, dass die bettlägerigen bilateralen Beziehungen zu den USA nach der dortigen Präsidentschaftswahl wieder auf die Beine kommen. Dementsprechend hielt sich auch das Inte­resse am Wahlausgang in engen Grenzen. MDZ-Praktikant Nikolaj Stepanow (18), Jurastudent aus Moskau, hat sich kurz vorm Urnengang in seinem Bekanntenkreis umgehört, welcher der Kandidaten mehr Sympathien genießt und aus russischer Sicht besser sein könnte.

Stars and Stripes in Moskau: die US-Botschaft am Gartenring (Foto: Sergej Wedjaschkin/AGN Moskva)

Gleb Sinjakow, 25, IT-Fachmann

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ganz offenkundig ist Trump prorussisch gesinnt, aber mir scheint, dass Vernunft in solchen Dingen wichtiger ist als eine bestimmte Einstellung. Und Biden ist vernünftiger als Trump. Andererseits ist ja auch unsere Regierung nicht sonderlich vernünftig, deshalb könnte Biden die Sanktionen verschärfen. Aber die Frage ist, wie sehr ein konkreter Präsident überhaupt die Beziehungen zu Russland beeinflusst, denn er unterliegt dem Wählerwillen, den Meinungen, die in den USA zirkulieren und die wiederum direkt davon abhängen, wie sich unsere Führung verhält. Die Sanktionspolitik in der west­lichen Welt gleicht sich mehr oder weniger. Auf einem anderen Blatt steht, dass Trump dabei in gewisser Weise auf die Bremse treten konnte, während Biden den Prozess eher noch beschleunigen wird. Aber ich glaube nicht, dass die qualitativen Unterschiede da sehr groß sind.

Alexander Wolkow, 52, Ingenieur

Ich kann nicht sagen, dass ich die Wahl mit Spannung verfolgen oder jemandem die Daumen drücken würde. Das ist ein anderes Land, wir haben unsere eigenen Probleme. Im Fernsehen wird über die Wahl gesprochen, aber eher am Rande. Wenn ich selbst abstimmen könnte, würde ich Trump wählen. In den vier Jahren seiner Amtszeit hat er keine neuen Kriege angezettelt und sich nach meiner Erinnerung auch mit harter Rhetorik gegenüber Russland zurückgehalten. Über Biden habe ich so gut wie nichts gehört.

Warwara Kusnezowa, 19, Studentin

Russland kommt weder der eine noch der andere Kandidat gelegen. Trump kümmert sich nicht groß um andere Staaten. Biden ist ein Demokrat, von daher kann er Russland nicht unterstützen. Denn Russland ist ein autoritäres bis totalitäres Land, auch wenn das ohne Unterlass bestritten wird. Deshalb ist keine Verbesserung in den Beziehungen zwischen unseren Ländern zu erwarten. Russland wird sich in jedem Falle schwer tun, mit dem neuen Präsidenten Einigungen zu erzielen, egal, wer es wird. Dafür ist unsere Außenpolitik einfach zu „gut“.

Jana Ossipowa, 69, Rentnerin

Wenn ich mich für einen von beiden entscheiden müsste, dann wäre das wahrscheinlich Trump. Aber nur, weil er das kleinere Übel ist und Biden noch schlechter. Über den sagt man, dass er vielleicht sogar einen Krieg gegen uns anzufangen bereit ist. Trump wollte Freundschaft mit Russland, aber daraus ist nichts geworden. Ich denke, dass beide eine Politik gegen Russland betreiben werden. Sanktionen, Provokationen – der Kalte Krieg ist noch immer nicht vorbei.

Irina Gluschak, 19, Studentin

Biden als eingefleischter Liberaler würde noch weitere Sanktionen verhängen, von denen es jetzt schon mehr als genug gibt. Außerdem sagen alle Finanzexperten voraus, dass der Dollarkurs mit ihm als Präsident auf 100 Rubel steigt, was man nicht wollen kann. Andererseits imponiert mir als Mensch mit linken Ansichten die Politik Bidens. Doch mit Trump wird es unter keinen Umständen Krieg geben, als Unternehmer versteht er, dass das kein einträgliches Unterfangen ist. Ob Biden das auch versteht, ist noch die Frage. Aus der Warte einer Russin, für die abzusehen ist, dass mit Biden die Preise in Russland steigen, während die Löhne gleich bleiben, müsste ich für Trump sein, vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes und der linken Weltanschauung aus – für Biden.

Wlad Anoskin, 23, Blogger

In den USA liegt die Macht, anders als in Russland, nicht in den Händen einer Person. Da spielen der Kongress und das gesamte poli­tische System eine wichtige Rolle. Deshalb ändert sich mit der Präsidentenwahl für Russland nichts, wie auch frühere Wahlen wenig Einfluss auf die bilateralen Beziehungen hatten.

Valentina Tinajewa, 21, Studentin

Mich interessiert an der ganzen Sache vor allem die Einwanderungspolitik. Mein Freund hat eine Greencard gewonnen und macht sich nun große Sorgen, was wird. Ich kenne mich mit Politik nicht so aus, aber Trump hat wohl vor, den Prozess der Visavergabe restriktiver zu handhaben, und Biden will überhaupt alles umkrempeln. Deshalb ist unklar, wie es damit weitergeht, und deshalb überwiegen bei mir die gemischten Gefühle. Ich denke mal, Biden ist ein Befürworter von Einwanderung, deshalb wäre sein Sieg auch ein Sieg für meinen Freund. Denn für den ist das eine einzigartige Möglichkeit. Er hofft, in ein Unternehmen einzusteigen, für das man sowohl in Russland als auch in den USA arbeiten kann. Und ich weiß, dass er das Zeug dazu hat.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: