„Wagner“-Kämpfer: Wie Mörder zu Helden wurden

Auf russischer Seite kämpfen in der Ukraine seit vorigem Sommer auch Häftlinge, die für die Privat­armee „Wagner“ in Straflagern angeworben wurden. Teils handelt es sich dabei um Schwerverbrecher. Wer den Fronteinsatz ein halbes Jahr überlebt, kommt auf freien Fuß.

Lange war es ein offenes Geheimnis, dass Jewgeni Prigoschin die Privatarmee „Wagner“ unterhält. Mit der Zeit zeigte er sich immer öfter mit seinen Kämpfern, hier in Soledar. (Foto: RIA Novosti)

Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti hat Anfang Januar ein Video verbreitet, das den Unternehmer Jewgeni Prigoschin mit etwa 20 Männern zeigt. Er ist der Einzige, dessen Gesicht nicht unkenntlich gemacht wurde. Bei den Männern handelt es sich, so die Beschreibung zu dem Video, um die „erste Gruppe ehemaliger Häftlinge, die an der Sonderoperation als Freiwillige der Gruppe ,Wagner‘ teilgenommen haben und deren halbjährige Verträge ausgelaufen sind, ihre Haftstrafen sind annulliert, teilte der Leiter von ,Wagner‘ Jewgeni Prigoschin mit“.

Auf dem Video zu sehen ist, wie Prigoschin Hände schüttelt und eine Ansprache hält. Die Männer hätten ihre Verträge „ehren- und würdevoll“ erfüllt, sagt er. Sie seien nun „absolut vollwertige Mitglieder der Gesellschaft“, die „allergrößtem Respekt“ verdient hätten. Den „geborenen Kriegern“ gibt er mit auf den Weg, sie sollten Alkohol und Drogen meiden und „keine Weiber vergewaltigen“.

Wer überlebt, ist frei

Die Anwerbung von Häftlingen und teils auch von Schwerverbrechern, die lange Gefängnisstrafen absaßen, in Strafkolonien wurde im Sommer vergangenen Jahres bekannt. Bei einer Verpflichtung für ein halbes Jahr winkte den verurteilten Kriminellen nach Angaben von Angehörigen die anschließende Freilassung. Daneben sei ihnen eine monatliche Vergütung von 200.000 Rubel (etwa 3000 Euro) und ihren Familien eine Einmalzahlung von fünf Millionen Rubel (ca. 70.000 Euro) im Todesfall versprochen worden.

Die Überlebenschancen wurden in Gesprächen gern mal mit 20 Prozent oder weniger angesetzt. Denn die Betroffenen sollten an vorderster Front kämpfen, so wie zuletzt, als Prigoschin die „Befreiung“ des Ortes Soledar im Donbass einzig und allein für seine „Wagner“-Armee reklamierte.

Unklare Gesetzeslage

Wie sich die Rekrutierung von Straftätern und erst recht der Erlass ihrer restlichen Haft mit den russischen Gesetzen verträgt, ist völlig unklar. Die Privatarmee selbst ist nach Paragraf 359 des Strafgesetzbuchs („Söldnertum“) illegal. Auf die Anwerbung, Ausbildung und Ausrüstung von Söldnern sowie ihren Einsatz in bewaffneten Konflikten stehen vier bis acht Jahre Haft.

Wie eine ungesetzliche Truppe eine „ehrenvolle“ Rolle bei der „Sonderoperation“ in der Ukraine spielen kann, dafür bleiben offizielle Stellen jegliche Antwort schuldig. Als sich Mitglieder des präsidialen Menschenrechtsrates im Spätherbst erkundigten, auf welcher rechtlichen Grundlage bei Häftlinge in Diensten von „Wagner“ Gerichtsurteile außer Kraft gesetzt würden, konnten diesen Umstand weder die Strafvollzugsbehörde FSIN noch die Generalstaatsanwaltschaft erklären.

Mit militärischen Ehren beigesetzt

Über einige der Freiwilligen, die bei ihrem Einsatz umgekommen waren oder aber die nun auf freiem Fuß sind, haben russische Medien persönliche Angaben in Erfahrung gebracht. So wurde am 5. Januar in der westsibirischen Stadt Serow Sergej Molodzow mit militärischen Ehren zu Grabe getragen. „Wie ein Held“, schrieb das Jekaterinburger Internetportal E1. Der 46-Jährige war als „Wagner“-Kämpfer an der Front gefallen. Die Stadtverwaltung von Serow beteuerte, ein „ehrendes Andenken“ an ihn bewahren zu wollen. Sie beschrieb ihn als Menschen, „für den die Wahrheit über allem stand“ und der „immer auf fremde Not reagierte“.

Nach Informationen der Online-Zeitung war Molodzow 2017 zu elfeinhalb Jahren schwerer Haft verurteilt worden, weil er seiner Mutter sechs Schläge zugefügt hatte, an deren Folgen sie starb. Geständig war der Angeklagte dabei nicht. Zuvor hatte er in einem weiteren Fall von Körperverletzung Glück gehabt, dass die gegen ihn verhängte Haftstrafe in Höhe von neun Jahren zur Bewährung ausgesetzt worden war. Bevor er von „Wagner“ angeworben wurde, hatte Molodzow rund fünf Jahre Gefängnis abgesessen.

Dmitri Karjagin gehörte nach Medienangaben zu den Männern, die auf dem Video von RIA Nowosti zu sehen sind. Er hatte 2014 in Kasan seine 87-jährige Oma, eine Veteranin des Großen Vaterländischen Krieges, in der Garage mit einem Hammer erschlagen. Dafür saß er seit 2016 eine Haftstrafe von 14,5 Jahren ab. Nun ist er ein freier Mann.

Gedenktafel an der Schule

An der Schule Nummer 11 in der Wolgastadt Saratow wurde unterdessen feierlich eine Gedenktafel für Denis Kowyrsin enthüllt, der hier einen Teil seiner Schulzeit verbracht hatte. Nun war er in der Ukraine getötet worden. Bei der Veranstaltung im Schulhof mit Liedern und Georgsbändern mahnte ein Abgeordneter des Regionalparlaments die Kinder, Helden müsse man kennen.

Kowyrsin war von einem Moskauer Gericht 2016 zu 7,5 Jahren verschärfter Haft wegen Mordes und unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt worden. Er war vier Jahre vorher nach einer Auseinandersetzung mit Migranten aus Tadschikistan zunächst weggefahren, aber, so das Gericht, eine halbe Stunde später mit zwei Pistolen zum Tatort zurückgekehrt und hatte um sich geschossen. Dabei wurde einer der Tadschiken tödlich in den Rücken getroffen.

Strafmildernd wirkten sich einige staatliche Auszeichnungen aus sowie die Teilnahme am Tschetschenienkrieg. Als sich Kowyrsin „Wagner“ anschloss, hatte er etwa sechs Jahre Haft verbüßt. Einen Monat später kam er in der Ukraine ums Leben.

„Was ist Ihnen lieber?“

Über eine weitere „Wagner“-Personalie berichtete die St. Petersburger Internetzeitung „Fontanka“: Der Immobilienmakler Alexander Tjutin musste 2021 für 23 Jahre hinter Gitter. Er hatte den grausamen Mord – unter anderem mit einer Axt – an seinem Geschäftspartner, dessen Frau und Kindern organisiert. Nach nur einem Jahr Haft ließ sich Tjutin von der „Wagner“-Truppe anwerben, blieb am Leben und machte nach Vertragsende Urlaub in der Türkei.

Auf eine „Fontanka“-Anfrage, ob das wohl richtig sein könne, fragte Prigoschin über den Pressedienst seiner Cateringfirma Konkord: „Hand aufs Herz, was ist Ihnen lieber? Dass der Mörder-Immobilienmakler in den Kampf zieht oder Ihr Angehöriger, denen Sie wahrscheinlich, im Unterschied zum Mörder-Immobilienmakler, im Zinksarg zurückbekommen?“ Den Sarg solle man lieber nicht öffnen, denn darin werde man nur Reste zerfetzter Leiber finden, weil „diese Hölle und diesem Fleischwolf“ ein Überleben kaum zuließen. Verurteilte Mörder, so Prigoschin, seien im Krieg so viel wert wie „drei, vier Milchbärte“.

Dem Kommentar war ein Bericht des Kommandeurs von Tjutin beigefügt. Darin wurde diesem „Heldentum“ bescheinigt. Er habe eine Tapferkeitsmedaille verdient.

Tino Künzel

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