Er macht sich’s bequem auf dem ausladenden, plüschigen Sofa im gediegenen Empfangsraum seines gerade bezogenen Zuhauses, der offiziellen Residenz im Zentrum von Moskau, fußläufig zum Kreml. Gleich gegenüber und unübersehbar durchs Fenster im Blick ein großformatiges Plakat auf einer Hauswand über die benachbarte niederländische Botschaft hinweg, dem eigentlichen Adressaten der gezielten Provokation, die die vermeintliche Ignoranz der Holländer gegenüber den angeblich weit über 11 000 russischen Todesopfern im Donbass bis 2014 anmahnen soll. Willkommen in Russland.
Seine übergroße Denkerstirn dank schon fliehenden Haupthaarwuchses legt sich höchst selten in grübelnde Falten während seiner durchgängig eloquenten Ausführungen zu welchem noch so kritisch-beunruhigenden Themenkreis auch immer. Er ist, rasch zu spüren, ein empathischer, positiv-lebensfroher Mensch. Er ist eben ein geborener Rheinländer – am 5. November 1966 in Köln. Das hat bis heute Spuren in seinem individuellen Leben hinterlassen. Er ist, obwohl dann in vielen anderen Orten aufgewachsen und gereift, bis heute ein glühender Fan der Fußballer vom 1. FC Köln und ein ebenso leidenschaftlicher Karnevalsjeck – sogar im närrischen „Elferrat“ der Bonner Prinzenproklamation war er schon dabei.
Das ist Alexander Sebastian Léonce von der Wenge Graf Lambsdorff. So kann sich der Nachkomme eines ursprünglich westfälischen, deutschbaltischen Adelsgeschlechts – erstmals urkundlich erwähnt bereits im frühen 13. Jahrhundert – namentlich nobilitätsgerecht ausweisen, lässt sich aber schlichter Alexander Graf Lambsdorff nennen. Sohn des Hagen von der Wenge Graf Lambsdorff und seiner Frau Ruth. Die hatten ihn schon Anfang der 1980er Jahre nach Moskau mitgenommen, wo sein Vater, ein früherer Journalist, an die deutsche Botschaft als Leiter der Kulturabteilung entsandt worden war und danach als Wirtschaftsattaché nach Washington. Schon er wurde dann schließlich zum Obergesandten: 1991 erster deutscher Botschafter in Lettland, dann Ende dieses Jahrzehnts in der tschechischen Hauptstadt Prag. Der öffentliche Dienst liegt den Lambsdorff-Grafen augenfällig im Blut: Die Ähnlichkeit mit dem im deutschen wie internationalen Politzirkus unvergesslichen Antlitz seines verstorbenen Onkels, dem einstigen liberalen Bundeswirtschaftsminister, Otto Graf Lambsdorff, der mit dem Gehstock, ist frappant.
Was den umtriebigen neuen Botschafter unserer Bundesrepublik zur wohltemperierten, geschickt ausgesuchten Wahl macht, jetzt sozusagen im Schnelldurchgang: nach Abitur und Wehrdienst bis zum Reserveoffizier eine facettenreiche sechsjährige Studienzeit ab 1987. Zuerst akademische Ausbildung in Geschichte, Politik, Öffentlichem Recht an der Universität Bonn, dann Geschichte und Internationale Beziehungen an der Georgetown University in der amerikanischen Hauptstadt – bis zum Master of Arts, Neuere Geschichte und Master of Science Internationale Beziehungen. Zwei Jahre Praktikant bei der Europäischen Kommission in Brüssel, bevor ihn 1995 das Auswärtige Amt zum „Vorbereitungsdienst höherer Dienst“ einholte. Nach drei Jahren Referent im Berliner Planungsstab, die erste Auslandsverwendung – Presseattaché in Washington. 2003 zurück im Außenministerium ins „Länderreferat Russland“. Ein Jahr später erstmal ein ausgiebiger „Ausflug“ in die Politik bis Mitte dieses Jahres: Mitglied des Europäischen Parlaments in Brüssel und Straßburg, für drei Jahre dessen Vizepräsident, ab 2017 Abgeordneter des Deutschen Bundestages.
Alexander Graf Lambsdorff hat zwei erwachsene Kinder, ist glücklich fest liiert, mag aber zu Privates ohnehin lieber für sich behalten, genau wie vor Ort zunächst einmal und diplomatisch korrekt zu viele seiner politischen Einschätzungen. Die sind geprägt von seiner parteilichen Zugehörigkeit und seinen Engagements in zahlreichen Verbänden, u. a. der „Atlantik-Brücke“, als Vorsitzender des Exekutivkomitees des Europäischen Demokratiefonds (EED), als Gründungsmitglied der Deutsch-Türkischen Stiftung und karitativ bei den Johannitern. Seine politische Heimat sind die Freien Demokraten. Jahrzehnte bekleidete er verschiedene FDP-Parteiämter via Ochsentour auf Orts-, Kreis-, Bezirksebene bis hin zum Mitglied des Bundesvorstandes. Sein jüngstes Buch (2021), „Wenn Elefanten kämpfen. Deutschlands Rolle in den Kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts“, verspricht geradezu, ein lesenswerter Klassiker zu werden.
Er kam sozusagen ohne „Pomp and Circumstance“, ohne Standarte, ohne Eskorte, schlicht durchs Hintertürchen per eigenem kleineren Audi-Modell aus Bonn über Berlin nach Moskau gefahren, um am 7. August des Jahres seine delikat-heikle Mission als deutscher Botschafter im russischen Riesenreich zu übernehmen. Zu lange Bedenkzeit war ihm nicht vergönnt und die brauchte er – wie er sagt – auch gar nicht unbedingt, um eines der auf unabsehbare Zeit global allerheißesten diplomatischen Parketts zu akzeptieren. Denn Russland und seine Russen seien ihm seit Jugendzeiten durch die hiesigen Aufgaben seines Vaters doch alles andere als völlig fremd. Und später von zahlreichen beruflichen Konferenzen, Gastvorlesungen, persönlichen Begegnungen. Er mag die russische Sprache, die er allerdings noch heftig perfektionieren müsse, obwohl er doch schon 1996 zum mehrmonatigen Erlernen während seiner diplomatischen Grundausbildung in die Nähe von Nowosibirsk geschickt worden war. Davon ist bei ihm aber vor allem sein winterlicher Einsatz auf sibirischem Glatteis als Mittelfeldspieler im Fußballverein des Mathematik-Instituts der dortigen Hochschule in Erinnerung geblieben. Zumal das Team sich mit einem hehren Namen, übersetzt „Club der aufrechten Verehrer des Fußballsports“, schmückte. Er lacht, ganz nach seiner Façon. Außer für den Sport erwärmt er sich in seinen freieren Stunden gern für die bildende Kunst und freut sich auf entsprechende visuelle Genüsse in den Museen von Moskau, St. Petersburg und anderswo. Zu seiner kulturellen Orientierung gehört auch seine Neigung zur russischen Literatur, da nennt er spontan den Schriftsteller Michail Bulkagow.
Seine Akkreditierung am 16. August im Moskauer Außenministerium in einer der „Sieben Schwestern“ – Stalins Moskauer umfängliches Hochhäuserprojekt – verlief, wie erwartet, nicht gerade sehr herzlich: Schließlich vertritt er einen vom Kreml als „unfreundlich“ deklarierten Staat.
So fundamentiert seine diplomatische Exzellenz, seine beruflich gerade jetzt und hier geforderte, solide ausgebildete Kompetenz und Erfahrung irgendwie wohl schon auf seinem jahrhundertealten, familiären Erbgut von Rittern, Offizieren, Politikern und höchstverantwortlichen Beamten wie genauso auf seiner spürbar-humanen Offenheit und demokratisch-liberalen Grundhaltung. Er redet wohlformuliert und -temperiert, floskellos, mit klar gesetzten Akzenten, begleitet von einem bisweilen leicht schalkhaften Lächeln aus den Augen und um die Mundwinkel. Ein Lächeln, das in passenden Momenten in ehrlich-herzliche Lacher ausarten kann.
In seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung am Tag der Deutschen Einheit vor großem Publikum im Festsaal der Botschaft am 3. Oktober dieses Jahres gelang ihm gleich ein vielbeachteter, vielgelobter Einstieg: „Liebe Landsleute, heute ist unser Feiertag. Erlauben Sie mir trotzdem, an erster Stelle die Vertreterinnen und Vertreter unseres Gastlandes Russland zu begrüßen. Es ist uns wichtig, gerade in diesen Zeiten mit Ihnen, mit vielen Menschen aus Kultur und Gesellschaft Russlands, im Austausch zu sein. Danke für Ihr Kommen, das ist uns ein wichtiges Zeichen.“ Seinerseits ein deutliches, untrügliches Zeichen für die initiale strategische Ausrichtung seines diplomatischen Wirkens hierzulande – eher als moderater „Brückenbauer“, denn als angriffslustiger „Hardliner“. Gott-sei-Dank. Und so versprach er weiter: „Für uns Deutsche und Russen – und hier schließe ich ausdrücklich alle Volksgruppen ein, die in diesem Lande leben, bis zum Pazifik, zum Nordmeer, zum Kaukasus – ist dies nicht das Ende unserer gemeinsamen Geschichte. Ich bin überzeugt: Die Gewalt wird nicht das letzte Wort haben.“
Wie heftig ihm stürmische Winde auch entgegenblasen mögen, er macht den Eindruck, dass er dem umso kräftiger entgegenwirken wird – schließlich starten auch Flugzeuge gegen den Wind zu ihren Hochleistungen. Aber „pan metron ariston“, wie die alten Griechen schon postulierten: „Alles in gutem Maße“. Sein Wahlspruch, seine Lebensleitlinie. Nun denn, ein beruhigend-vielversprechender Antritt auf einem mit Stolpersteinen gepflasterten Dienstweg, nach dem Erreichen der Zielgeraden in ein paar Jahren sprechen wir uns wieder. Sein gesundes, optimistisch eingestimmtes Naturell wird sicherlich nicht abhandengekommen sein, immer in der Hoffnung, dass sich die aktuell äußerst unfreundlichen Umfeldbedingungen entschärft haben werden. Er wird dazu beitragen, ein fundamentaler, überzeugter „Brückenbauer“ zu bleiben, auch wenn er heute unmissverständlich klar sehen muss, dass das derzeit denkbar schwer ist, weil das Gegenüber doch offensichtlich gar nicht mehr auf die andere, auf unsere Seite will!?
Ein gutes Gelingen, viel Glück dazu, Eure Exzellenz.
Frank Ebbecke